23. Etappe: Belluno – Rifugio 5° Artiglieria Alpina

Rifugio 5 Artiglieria Alpina

Die Melancholie der letzten Tage weicht an diesem Morgen einem erwartungsvollen Gefühl der Vorfreude auf den Blick hinter der letzten Bergkette. Der halbe Pausentag gestern tat gut. In einem super weichen und bequemen Hotelbett konnten wir unsere inneren Akkus laden. 7.45 Uhr sitzen wir beim Frühstück. Das ist heute sehr übersichtlich, aber wir wussten schon vorher, dass in Italien mitunter ähnlich wenig wert auf Frühstück gelegt wird, wie in Frankreich. Heute Morgen war es eine echte Herausforderung die Rucksäcke wieder zu packen. Die Klamotten vom gestrigen Shoppingtrip füllen nun die letzten verbliebenen Lücken im Rucksack. Viele Venediggeher schicken von hier aus ihre Bergstiefel mit der Post heimwärts. Wir entscheiden uns dafür, die Schuhe bei der letzten Bergetappe heute und morgen noch einmal anzuziehen und sie dann auch bis Venedig mitzunehmen.

„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn…?“

9.00 Uhr setzen wir uns in Bewegung, laufen noch einmal quer durch die Altstadt Bellunos hinunter zur Piave. Dort queren wir den Fluss. Auf vielen kleinen gelben Schildchen ist der Traumpfad München-Venedig ausgeschildert. Sich zu orientieren ist leicht und so gewinnen wir schnell wieder an Höhe. Gleichzeitig bekommen wir einen Vorgeschmack auf die vor uns liegenden Etappen, denn große Teile des Weges legen wir auf Asphalt zurück. Schnell heizt sich der Teer in der Sonne auf und sorgt für einen schweißtreibenden Aufstieg. Im kleinen Örtchen Caleipo-Sossai wachsen Zitronen und Kiwis in den Vorgärten. Mich irritieren Hitze und südländische Atmosphäre, standen wir doch vor nicht einmal einer Woche auf dem tief verschneiden Piz Boè.

Weil die Sonne gegen Mittag immer unerbittlicher auf uns niederprasselt, sind wir mehr als erleichtert, als der Weg schließlich zu einem Pfad wird und uns durch das Unterholz eines Waldes führt. Ein kleiner Bach plätschert vor uns und mündet in ein breites Naturbecken. Das Wasser ist glasklar. Wir schultern unsere Rucksäcke ab, ziehen die Badesachen an und nutzen die Gelegenheit, um baden zu gehen. Das Wasser ist eisig, aber nach der heißen Sonne eine mehr als wohltuende Abkühlung. Ich genieße die Ruhe und das sanfte Licht, das durch die Blätter auf das glitzernde Wasser fällt. Wir gönnen uns eine ausgiebige Pause. Dann werden erneut die Rucksäcke geschultert.

Den „Schneebedeckten“ zu Fuß erklimmen

Landschaftlich ähnelt der Weg einer Wanderung im Erzgebirge bis wir den Wald schließlich wieder verlassen und einer Straße bis zur Hotelsiedlung des Nevegal folgen müssen. Nevegal heißt frei übersetzt der „Schneebedeckte“. Das Hochplateau ist der Hausberg der Venezianer. Sobald der erste Schnee fällt, pilgern sie in den Nordosten des Nevegal, um Ski zu fahren. Dieses Skigebiet lernen wir nun näher kennen, als uns lieb ist. Denn die Wanderroute verläuft geradewegs den Skihang hinauf. Es ist ein bisschen wie auf der Fichtelberger Himmelsleiter mit dem kleinen Unterschied, dass der Weg hier doppelt so lang ist und wir bei molligen 30°C hochtrotten. Als wir ein gutes Drittel hinter uns haben, springt neben uns der Sessellift an. Spätestens jetzt fühlt es sich irre an, zu Fuß zu gehen. Hin und wieder jodeln über uns die Wanderer im Sessellift, winken uns wild zu. Sebastian liebäugelt mit der Mittelstation. Ich tue so, als hätte ich sie nicht gesehen und laufe stur daran vorbei im gefühlten 90°-Winkel dem Gipfel entgegen.

Schließlich erreichen wir gegen 15.00 Uhr den Bergrücken. Zahlreiche Antennen und Sendemasten säumen die Gipfel des Nevegal und strahlen ihr Programm in die weite Ebene der Piave, die sich schließlich vor uns erstreckt. An guten Tagen kann man von hier aus bis nach Venedig, bis zum Meer schauen. Doch der Himmel ist diesig, wie so oft im Sommer. Trotzdem bilden wir uns ein, dass der letzte dunkelblaue Streif am Horizont einfach das Meer sein muss. Die italienischen Voralpen sind ganz anders als die Bayerischen. Nur eine hügelige Landschaft kommt noch nach dem Nevegal und die ist offenbar so niedrig, dass wir von hier oben das Gefühl haben, alles dort unten sei flach.

Bergen und Meer so nah

Der Col Visentin ist der höchste Berg des Nevegal und ungefähr drei kleinere Gipfel westlich von uns entfernt. Es geht also auf und ab Richtung Rifugio 5° Artiglieria Alpina. Eigentlich fehlen mir die Worte für diesen Moment. Rechts wachsen schroff und steil die Dolomiten in den Himmel. Links von uns ist alles eben und wir können das Meer erahnen. Zu keinem Zeitpunkt unserer Reise waren die beiden Welten sich näher, die dieser Weg verbinden soll – Berge und Meer. Ehrfürchtig halte ich immer wieder inne, schaue in alle Richtungen, versuche die Eindrücke zu fassen und zu sortieren.

Hier oben sind deutlich mehr Menschen unterwegs als auf dem gesamten heutigen Weg. Wanderer, Mountainbiker und diejenigen, die es werden wollen okkupieren die Bergkette. Doch es ist lang nicht so ein Gedränge wie auf dem Bindelweg gegenüber der Marmolada. Ein leichter Wind weht und die Temperaturen sind deutlich angenehmer auf einer Höhe von über 1.700 Metern.

Das Rifugio 5° Artiglieria Alpina

16.00 Uhr erreichen wir die Hütte, die von außen eigentlich mehr wie die Hauptsendestation des italienischen Rundfunks wirkt. Zahlreiche rot-weiße Antennen ragen überall aus dem Haus. Ein Leuchtturm steht daneben, dessen Tür geöffnet ist. Im Inneren gleicht er eher einer Kapelle. Von der Adria aus ist er sichtbar und diente Seefahrern tatsächlich lange Zeit zur Orientierung auf dem Meer. An Tafeln im Innenraum des Turmes sind die Namen gefallener Soldaten eingraviert.

Auch die Hütte hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Das Inventar, ein buntes Konglomerat aus Alpenkitsch, Artillerierelikten, Skigaudi und eigenwilliger Kunst, erinnert daran. Mehrmals ging die Hütte in Flammen auf, war es durch Brandstiftung oder durch ein Unglück. Unermüdlich wurde sie aber auch immer wieder aufgebaut, war seit jeher ein wichtiger militärstrategischer Posten. Heute ist es vor allem eine sendestrategisch wichtiger Posten. Tatsächlich haben alle bedeutenden Rundfunkprogramme hier oben eine Antenne. Ebenso verrückt wie das Rifugium wirkt sein hagerer Wirt, der uns in gebrochenem Deutsch begrüßt. Er ist einer dieser Menschen, die einem nur durch ihre bloße Erscheinung ein Lächeln ins Gesicht zaubern und denen man nahezu nichts übel nehmen kann. Und das ist wohl auch gut so, denn er wirkt ziemlich verpeilt.

Zeitraffer Rifugio 5° Artiglieria Alpina

Bevor wir das Lager beziehen, schieben wir uns die obligatorische Portion Pasta al ragù und ein kühles Radler rein. Das schwäbische Pärchen vom Passo Duran treffen wir auf der Terrasse wieder. Sie sitzen dort gemeinsam mit ein paar anderen jungen Wanderern, die gerade ihre Pläne zu ändern scheinen. Sie wollen nicht bleiben, sondern bis zur nächsten Hütte weiterlaufen, trotz Reservierung auf dem Col Visentin. Uns soll es recht sein. Dann wird das Lager nicht so voll. Allerdings finden wir es nicht besonders fein, dass eine Gruppe von sechs Personen auf einer Hütte mit sehr begrenzten Schlafmöglichkeiten reserviert und dann ohne Not die Reservierung cancelt. Andere hätten möglicherweise heute gern hier oben übernachtet. So bleiben wir mit dem schwäbischen Pärchen allein im Lager.

In vielen Foren bekommt die Hütte sehr negative Bewertungen und ja, der Standard ist nicht sonderlich hoch. Es herrscht sichtlicher Investitionsstau. Die Dusche ist gratis, sie ist aber auch nur für den Ersten in der Reihe warm. Ich hingegen bin die Dritte und muss mal wieder mit Gletscherwasser vorlieb nehmen. Die sanitäre Einrichtung ist wie so vieles hier auf dem Stand der 70er Jahre. Allerdings ist die Servicedame penibel auf Sauberkeit bedacht und wischt jede halbe Stunde den Boden in Dusche und Toilette. Die Doppelstockbetten aus Metall haben auch ihre beste Zeit hinter sich. Aber was mir persönlich viel mehr bedeutet als die Ausstattung, ist die Gastfreundschaft des Personals und die ist groß.

Der letzte Hüttenabend

Nach einem reichlichen Abendessen setzen wir uns gemeinsam mit den Schwaben vor den Schlafraum, wo die Sonne orange über den Bergen leuchtet. Sie erzählen uns, von ihrer Schiaraüberschreitung. Während unsere Reise noch fünf Tage dauern wird, endet ihr Weg schon morgen in Tarzo. Bis Venedig werden sie dann mit dem Zug fahren. Zu heiß sei es und zu viel Asphalt müsse man auf dieser Strecke zurücklegen. Langsam schwant mir Übles für die letzten Etappen. Seit Tagen haben wir mit niemandem mehr gesprochen, der den ganzen Weg gehen will. In meinem Kopf sind vor allem die Argumente all jener, die den Zug nehmen oder gleich heim fahren. Trotz des wachsenden Respekts vor den bevorstehenden Tagen, genießen wir die entspannten Gespräche mit den beiden und beobachten den Sonnenuntergang über den Dolomiten.

Zeitraffer Sonnenuntergang über den Dolomiten

Als die Sonne schließlich feuerrot zwischen den Gipfeln versunken ist, gehen wir in die Hütte und hören schon Gitarre und Gesang aus der Gaststube. Ein älterer Herr sitzt dort, zupft die Gitarre, spielt Mundharmonika und singt abwechselnd dazu. Er beherrscht das gesamte bekannte Repertoire der Beatles, stimmt aber auch „Knocking on Heavens Door“ von Guns n‘ Roses an. Wir alle singen mit. Es ist eine herrliche Stimmung an unserem letzten Hüttenabend, den ich so schnell nicht vergessen werde.

Als alle anderen schon zu Bett gegangen sind, unterhalten wir uns noch eine Weile mit dem Musiker. Wie so viele, die wir auf dieser Wanderung getroffen haben, kannte auch er Ludwig Graßler. Bei einer seiner Wanderungen auf den Col Visentin traf er ihn noch vor einigen Jahren. Regelmäßig ist er hier unterwegs. In Tarzo, gleich am Fuße des Nevegals, lebt der gebürtige Brite zusammen mit einer Italienerin.

Wir fragen ihn, ob er die letzten Etappen in der Ebene kennt und uns irgendwelche Tipps geben kann. Er atmet tief ein. „Well I do understand, why Ludwig followed the Piave to the sea. But I don’t understand, why people still do it today. They get burnt for three days. There is no shadow anywhere. You better should follow the river Sile down to Venice.“ Das Klima sei über die Jahre deutlich heißer geworden, erklärt er. Im Gegensatz zu den Ufern der Piave sei die Sile mit Bäumen gesäumt. Dem Fluss könne man bis in die Lagune folgen und dann mit der Fähre übersetzen. Den genauen Weg will er uns morgen erklären, wenn wir bei seinem guten Freund, Roberto da Tullio, in Arfanta unweit von Tarzo übernachten. Vorerst gehen wir aber schlafen – zum letzten Mal in quietschenden Metalldoppelstockbetten.

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