Eigentlich möchte ich heute nicht aufstehen, möchte nicht einen Fuß vor den anderen setzen, möchte nicht bergab gehen. Im Tal warten der Lärm der Stadt, Autos, Asphalt, aber vor allem Menschen. Nur die Wenigsten von ihnen werden verstehen können, was ich meine, wenn ich von der unbegreiflichen Schönheit, den Anstrengungen und Begegnungen dieser Reise spreche. Belluno ist wie ein Cut auf dieser Wanderung, bevor man nach dem letzten Hügel, dem Nevegal, nur noch geradeaus läuft.
Stiller Abstieg zum Bus
Auch wenn wir nach Belluno noch einmal auf einer Hütte übernachten werden, genieße ich das Frühstück in vollen Zügen. Heute liegt eine sehr kurze Etappe vor uns. Nur knapp drei Stunden sind es hinab bis zur Haltestelle „La Pissa“. Von dort werden wir den Bus nach Belluno nehmen, um noch einen halben Tag Pause zu haben. Die Route verläuft über einen recht bequemen Forstweg, der uns meist in Serpentinen nach unten führt und später in einen unbefestigten Pfad mündet. Zahlreiche Alpenveilchen säumen die Ränder. In Gedanken nehme ich Abschied von den Bergen begleitet von ein paar stillen Tränen.





Jeder läuft heute für sich. Sebastian kämpft mit fiesen Brandblasen – genau dort, wo die Riemen des Rucksacks auf den Schultern liegen. 9.30 Uhr erreichen wir die Haltestelle. Eine kleine Gruppe Wanderer, die wir schon vom Rifugio Bianchet kennen, kommt wenig später an der Haltestelle an. Gleich daneben steht ein altes Gasthaus, das wohl schon seit einigen Jahren im Begriff ist zu verfallen. Unweigerlich denke ich: Typisch italienisch, obwohl es ganz ähnliche Bilder auch in einigen Ecken des Erzgebirges gibt. Kurz lasse ich noch einmal die Drohne steigen. Dann fährt schon der Bus vor.
Die Fahrt fühlt sich an, als würde die Welt an mir vorbeirauschen – viel zu schnell. In nicht mal einer halben Stunde bringen wir fast 20 Kilometer hinter uns, eine Strecke für die wir zu Fuß locker fünf Stunden benötigt hätten. An diese Geschwindigkeit muss ich mich erst einmal wieder gewöhnen. Als wir in Belluno aussteigen, ist es bereits drückend warm. Unser Hotel liegt nur wenige Meter vom Bahnhof entfernt. Gerade sind die letzten Gäste der Vornacht abgereist, sodass unser Zimmer noch nicht bezugsfertig ist. Aber wir können unsere Rucksäcke sicher abstellen, um die Stadt zu erkunden.
Zurück in der Zivilisation
Das erste Ziel ist eine Apotheke, um Salbe gegen die Brandblasen zu besorgen. Danach gehen wir shoppen. In der letzten vor uns liegenden Wanderwoche werden wir jeden Abend essen gehen (müssen). In unseren Bergklamotten würden wir zu sehr aus dem Rahmen fallen. Dank Sommer Sale sind schnell ein paar günstige Teile gefunden. Ich probiere ein Sommerkleid an – ein echt schräges Gefühl, nachdem T-Shirt und Hose seit drei Wochen zu einer Art zweiten Haut geworden sind. Mit unseren neuen Sommeroutfits kommen wir ein weiteres Stück zurück in die Zivilisation.

An der Piazza dei Martiri finden wir ein ruhiges Café für eine Mittagspause. Dort gönnen wir uns einen Aperol Spritz und super leckere Sandwiches mit Tomate, Mozzarella und Pesto. Durch Zufall treffen wir Armin, seine Tochter und ihren Freund wieder und tauschen uns über die zurückliegenden Tage aus. Sie schwärmen von der Übersteigung der Schiara und ich weiß, dass ich diesen besonderen Teil der Strecke irgendwann auch noch gehen möchte. Es wird das letzte Mal sein, dass wir die drei sehen, dass sich die Wege kreuzen.
Zwischen Dolomiten und Nevegal
Nach einem kurzen Nickerchen im Hotel schlendern wir noch ein wenig durch Belluno, machen für die kommenden Tage einige Besorgungen in der Apotheke und im Supermarkt. Mit seinen rund 36.000 Einwohnern ist Belluno keine sonderlich große Stadt. Trotzdem fühlt es sich riesig und irgendwie auch unruhig an. Zur Ruhe kommen wir erst beim Abendessen. Auf der Dachterrasse eines Restaurants können wir den Nevegal mit dem Col Visentin sehen. Die Hütte dort oben wird unser morgiges Ziel sein. Unterhalb der Dachterrasse funkelt der Fluss Piave im Sonnenuntergang. In der Ebene wird sie uns in fünf Tagesetappen ans Meer führen.
Unsere Reise begann mit einem Fluss und sie mündet – sie endet mit einem Fluss am Meer. Dass es schließlich doch ein wenig anders kommen würde, ahnen wir an diesem Abend in Belluno nicht.








