15. Etappe: Schlüterhütte – Grödner Joch

Cir Joch

Wie annähernd jeden Tag sitzt uns auch heute das Wetter wieder im Nacken. Noch scheint die Sonne beim allmorgendlichen Blick aus dem Fenster. Doch das soll sich laut Wetterbericht rasch ändern.

Beim Frühstück kommen wir endlich auch mit den beiden jungen Kerlen ins Gespräch, die schon seit einiger Zeit jeden Abend in der selben Unterkunft wie wir ankommen. Im vergangenen Jahr sind sie die ersten zehn Etappen des Traumpfades gegangen. In diesem Jahr setzen sie ihre Tour bis Alleghe fort. Sie berichten von abenteuerlichen ersten Tagen mit Regen und frisch besohlten Wanderschuhen, die gleich beim ersten Schauer aus dem Leim gingen. Jeder macht auf diesem Weg wohl seine ganz eigenen Erfahrungen und sammelt Geschichten, die im ersten Moment zum heulen, mit etwas Abstand aber zum totlachen sind. Wir sind gespannt, wie wohl unser erster Tag im Regen verlaufen wird. Die beiden Jungs gehören jedenfalls zu den Glücklichen, die noch auf dem Rifugio Puez Schlafplätze ergattert haben. Vor ihnen liegen nur etwa vier Stunden bis zu ihrem Etappenziel. Wir hingegen müssen noch drei Stunden länger laufen bis zum Grödner Joch.

Aufstieg zur Roa-Scharte

Wir klemmen also die Beine unter die Achseln und laufen los, erst über sanfte grüne Hänge bis es steil und steinig wird. Irgendwie haben wir wohl beide die heutige Etappenbeschreibung nicht richtig gelesen und erliegen der irrigen Annahme, dass nach der Roa-Scharte das Schlimmste überstanden sei. Leider ist dem bei Weitem nicht so. Auf der Scharte angekommen, geht es erst richtig los – wettertechnisch wie auch klettertechnisch.

Wettersturz am Klettersteig

Ein rauer Wind pfeift durch die schroffen Bergspitzen und treibt die Wolken samt Regen genau in unsere Richtung. Regulär verläuft der Weg von hier über die Nives-Scharte. Für ein paar Meter folgen wir dem schmalen Pfad über Geröll. Dann sehen wir durch ein Wolkenloch einige Wanderer an den senkrecht aufragenden Felsen klettern und entscheiden, bei diesem Wetter doch lieber den (angeblich) einfacheren, wenn auch deutlich längeren Umweg zu gehen. Wieder einmal rennen wir den Berg herunter. Vor uns entdecken wir den älteren einzelnen Wanderer von gestern Abend. Er will es heute sogar bis zum Rifugio Pisciadù schaffen und damit noch zwei Stunden länger laufen als wir. Sein grüner Rucksack wird für die nächsten drei Kilometer unsere Orientierung durch die dichten Wolken sein.

Mittlerweile regnet es heftig. Nachdem wir lang bergab gegangen sind, geht es nun wieder bergauf. Den grünen Rucksack des Wanderers haben wir beim letzten kurzen Stopp aus den Augen verloren. Zwei einzelne italienische Wanderer laufen noch hinter uns, als wir schließlich doch an einem Klettersteig mit Stahlseilen zum Stehen kommen. Genau das wollten wir doch unbedingt vermeiden. Nun haben wir kaum eine Wahl, noch anders zu gehen. Wir schließen uns mit den beiden Italienern zusammen und beginnen uns bei einer Sichtweite von kaum mehr als zwei Metern an den Stahlseilen nach oben zu tasten. Noch bewegen wir uns dabei auf festem Untergrund – wenn auch der Kalkfelsen durch den Regen deutlich rutschiger ist. Doch nach der nächsten Kurve schon erwarten uns Steigeisen. Zwischen zwei Felsen klafft der Abgrund – etwa eine Schrittlänge breit. Der Blick nach links und rechts in die Wolken lässt nur erahnen, dass es auch dort in die Tiefe geht. Während Sebastian noch relativ zügig über die Schlucht steigt, ist es für mich ein minutenlanger Kampf mit meinen vergleichsweise kurzen Beinen die Steigeisen auf der anderen Seite zu erreichen. Der Rucksack zieht mich nach hinten. Das Herz wummert mir zum ersten Mal auf dieser Tour schmerzhaft in der Brust.

Felskathedralen und Mondlandschaften

Wir schaffen es, beobachten und warten auf die beiden Italiener hinter uns. Auch sie kommen unversehrt über den Klettersteig. Danach heißt es erst einmal durchatmen und verdauen, bevor wir den Weg Richtung Rifugio Puez fortsetzen. Dort wollen wir uns zumindest kurz mit einer heißen Suppe aufwärmen. Unsere Handschuhe sind nass, die Finger kalt und langsam wird es auch unter der Regenjacke klamm. Doch als die Hütte in Sichtweite ist, ahnen wir schon, dass aus der warmen Stube wohl nichts wird. Weit und breit ist die kleine Hütte der einzige Unterschlupf für Wanderer, die nun sogar draußen unter dem Dachvorsprung stehen, um Schutz vor dem Regen zu finden. Die Tür zum Gastraum lässt sich nicht öffnen, weil drinnen die Wanderer Schlange stehen.

Statt warme Suppe in der Hütte zu schlürfen beißen wir draußen unter dem Dachvorsprung in unsere gut gekühlten Äpfel und Müsliriegel. Jetzt wo wir stehen wird es noch kälter. Nach wenigen Minuten setzen wir unseren Weg fort. Noch drei Jöcher überqueren wir heute. Der Weg kommt uns unendlich vor. Nur selten erhaschen wir einen Blick auf die wunderbare Landschaft, die uns umgibt. Hin und wieder geben die Wolken die Sicht auf die herrlich wilden Felsformationen der Puez-Geisler-Gruppe und der Sella frei. Der Abstieg vom Crespeina Joch ist gesäumt von gelbem Alpenmohn, der üppig an den Geröllhängen wächst. Am Cir Joch fühlt es sich schließlich so an, als würden wir am Grand Canyon stehen. Die Bergwände leuchten in verschiedenen Rottönen und überragen die Mondlandschaft.

Als wir aus der letzten Felskathedrale heraustreten, können wir durch die auflockernden Wolken die Sessel- und Kabinenbahnen des Skigebietes am Gödner Joch sehen. Die letzten Meter bis zum Berghaus Frara verlaufen wieder über gemütliche Wanderwege und breite Versorgungsstraßen. Entlang der Skihänge wachsen Margeriten. Doch die Sommerblumen wollen nicht so recht zu dem trüben Wetter passen.

Vom Unterschied zwischen Urlaub und Reisen

Im Berghaus Frara freuen wir uns über einen gut ausgestatteten Trockenraum. An den Heizgarderoben, die im Winter mit schweren Skistiefeln beladen werden, hängen wir unsere durchnässten Wanderschuhe auf. Nach einer ordentlichen Portion Spaghetti Bolognese und einer Wasch-Session, hauen wir uns für ein Stündchen auf’s Ohr. Ich verbringe die Zeit damit, unsere letzten Unterkünfte in der Ebene sowie die Ferienwohnung in Venedig aber auch den Zug zurück zu buchen. Wie schon am Pfitscher Joch packt mich ein leichter Abschiedsschmerz beim Gedanken daran, dass diese Wanderung irgendwann enden wird. Normale Urlauber würden jetzt nach zwei Wochen wahrscheinlich die Heimfahrt antreten. Doch das hier ist kein Urlaub, keine Erholung im klassischen Sinne. Das hier ist eine Reise – die fordert, die gibt, die inspiriert, die fasziniert, die weh tut, die mich, die uns verändern wird. Die Frage ist nur: Wie?

Beim Abendessen treffen wir Heike und Lars, das Pärchen im Alter unserer Eltern, wieder. Auch sie sind ein bisschen geknickt, weil heute eine der wohl aussichtsreichsten Touren buchstäblich ins Wasser gefallen und in den Wolken verschwunden ist. Ich für meinen Teil will diese beeindruckende Region der Alpen unbedingt noch einmal bei gutem Wetter durchschreiten. Ansonsten verbringen wir gemeinsam einen entspannten Abend mit guten Gesprächen über’s Skifahren, Hochtouren in Nepal und all die verrückten Dinge, die wir machen wollen, wenn der Moment gekommen ist und wir auf dem Markusplatz in Venedig stehen. Die beiden planen einen Tag nach uns anzukommen. Dann wollen wir gemeinsam anstoßen auf diesen großartigen Weg, der eigentlich unser Ziel ist.

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