Meine innere Uhr hat sich umgestellt. Sie tickt jetzt mit den Bergen. Kurz vor 6.00 Uhr hält mich nichts mehr im Bett. Ich muss aufstehen. Die Sonne kitzelt schon die Gipfel der Berge rund um den Schlegeisspeicher. Sebastian schläft noch. Ich schleich mich mit meiner Jacke auf den Balkon. Es ist ziemlich kalt hier auf 1.805 Metern. Für mich genieße ich die ruhige Morgenstunde, beobachte wie die Sonne immer höher steigt.
Wenn die Socken (neue) Beine kriegen
Gegen 7.00 Uhr kommt Leben in die Hütte. Wir gehen es heute Morgen gemütlich an. Nur eine kurze Tour, mit rund fünf Stunden erwartet uns. Dementsprechend ist Sebastian auch der Letzte, der die Wäsche beim Trockner abholt. Verärgert platzt er zur Tür rein. „Meine zwei Paar Merino-Socken sind natürlich weg. Jemand anderes hat sie mitgenommen.“ Mindestens genauso verärgert kommt Hüttenwirt Heiko hinterher, klopft an allen Zimmern, die noch belegt sind und fragt nach den zwei verschwundenen Sockenpaaren.

Doch sie tauchen nicht wieder auf. Heiko hat zwei Mountainbiker im Verdacht, die schon in den frühen Morgenstunden das Weite gesucht haben. „In zwölf Jahren ist mir das nicht passiert. Das gibt es nicht.“ Er rennt los, holt ein Paar frisch gewaschene Wandersocken von sich und gibt sie Sebastian. Beim Frühstück drückt er ihm noch etwas Geld in die Hand. Wir sind die Letzten am Buffet und lassen uns Zeit. Der Blick auf den See heute Morgen ist einfach zu schön.
Ein echter Hüttenwirt auf der klassischen Route
Von unserer Ecke aus beobachten wir, wie sich nach und nach die anderen Wanderer und Mountainbiker verabschieden. Jedem einzelnen wünscht Heiko einen guten Tag. Dann kommen wir mit ihm ins Gespräch über den Traumpfad, seine Hütte, das Gastroleben. Stolz berichtet er, dass Ludwig Graßler vor einigen Jahren noch selbst hier war. Heiko holt ein dickes Gästebuch aus dem Regal und schlägt die Seite mit Graßlers Eintrag auf. Wir lesen dort nur lobende Worte und finden den altbekannten Traumpfad-Sticker wieder, der schon auf unserem Weg entlang der Isar an mehreren Laternenmasten klebte.
Die klassische von Graßler geplante Route verlief über die Dominikushütte. Alle Venediggeher kamen hier vorbei. Seit einigen Jahren gibt es jedoch auch die Olpererhütte am Berg. Viele bleiben deshalb lieber oben und sparen sich den Abstieg. Zu allem Überfluss befindet sich direkt neben der Olpererhütte eine Hängebrücke mit zweifelhafter Berühmtheit. Im Sommer strömen täglich hunderte Insta-Girls und -Boys (oder die, die es werden wollen) dort hinauf, um ein Foto auf der Brücke zu machen. Denn im richtigen Winkel betrachtet, sieht es aus, als würde man über dem Schlegeissee schweben, obwohl die Brücke nur wenige Meter über dem Boden hängt.
Wanderer, die wirklich zum Wandern vorbeikommen, haben es seitdem schwer, die Brücke überhaupt noch zu queren. Es gibt sogar Überlegungen, etwas weiter oben eine zweite Brücke zu bauen, damit sich der Wanderverkehr nicht ständig wegen der fotowütigen Turnschuhtouristen staut.



Wie dem auch sei. Wer oben bleibt, verpasst etwas. Meine Meinung. Das Gespräch und die Gastfreundschaft von Heiko sind so schön, dass es uns immer schwerer fällt zu gehen. Doch wir müssen weiter. Als wir gehen wollen, ruft er noch „Bleib!“ und flitzt in ein Hinterzimmer. Zurück kommt er mit einem weiteren Paar Socken, dass er Sebastian in die Hand drückt. Wir versprechen, ihm eine Postkarte aus Venedig zu schicken und laufen gegen 10.30 Uhr schließlich los.
„Wie die Kugel rollt und das Wasser fließt“
Erst einmal geht es eine ganze Weile entlang des Schlegeisspeichers geradeaus. Etliche Tageswanderer suchen Parkplätze rund um den See. Am Zamsgatterl steht ein kleiner Kiosk, an dem wir uns mit Proviant eindecken.

Zum ersten Mal geraten wir hier in eine Armada von Touristen hinein – einerseits, weil wir spät dran sind, andererseits, weil der Aufstieg zum Pfitscherjochhaus sehr beliebt ist. Der Wegverlauf ist heute bequem, führt uns entlang eines kleinen Bachs über Weiden, an Kühen vorbei bis nach oben auf den Sattel des Pfitscher Jochs.




Allein das kleine verrammelte Häuschen erinnert an die einst strikt getrennte Grenze zwischen Italien und Österreich. Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg gezogen „wie die Kugel rollt und das Wasser fließt“, heißt es im Wanderführer. Tirol war fortan zweigeteilt. Hier oben überschreiten wir also nun den Alpenhauptkamm, die zweite Staatsgrenze und sind damit im dritten und letzten Land unserer Reise angekommen. Auf dem Grenzstein ist „Italia“ zu lesen. Ein emotionaler Moment, in dem ich die Tränen kaum zurückhalten kann.



Hinter uns kommt ein kräftig gebauter Mann den Berg hinaufgehastet. In breitem sächsischen Dialekt fragt er, ob wir ein Foto von ihm am Grenzstein machen können. Er sei letztes Jahr schon fast hier oben gewesen. Doch keiner aus seiner Reisegruppe habe von der Lavitzalm noch weiter laufen wollen. „Heimische Klänge“, sage ich nur und strecke die Hand nach seinem Smartphone aus. „Ja, ich komme aus Frankenberg. Und woher kommt beziehungsweise wohin geht ihr noch?“ Wir berichten ihm von unserem Ziel, als zwei junge Kerle abgekämpft hinterhergerannt kommen. „Habt ihr’s doch noch geschafft?! Die Beeden hier kommen aus Chems, wandern schon seit München und dann bis nach Venedig.“ „Ach du Scheiße!“, sagt einer der beiden Jungs nur knapp.
Wir schießen ein Foto von den Dreien. Kurz bedanken sie sich, wünschen uns noch eine gute Reise, drehen sich um und gehen auf österreichischer Seite wieder nach unten. Wir hingegen setzen unseren Weg auf italienischer Seite nach kurzer Rast fort.
Stein – urig, aber fein
Jetzt geht es nur noch bergab bis nach Stein – ein winziges verschlafenes Nest mit nur wenigen Häusern. Das Gasthaus Stein ist schon ein wenig in die Jahre gekommen. Nach einem kühlen Getränk und einer kräftigen Knödelsuppe auf der Terrasse dürfen wir unser Zimmer beziehen. Urig und einfach ist es, aber wir haben es für uns allein.




Da wir heute nur rund vier Stunden unterwegs waren, bleibt noch genügend Zeit, um nach St. Jakob zu laufen, um im Dorfladen Proviant und Kuchen einzukaufen. Rund 40 Minuten sind wir dorthin unterwegs. Es ist ein ungewohntes Gefühl, ohne Rucksack zu laufen.
Am Abend genießen wir eine zünftige Mahlzeit. Ein letztes Mal sehen wir auch die Familie mit den beiden Töchtern. Ihre Reise endet hier – zumindest für dieses Jahr. Nächstes Jahr dann wollen sie hier wieder einsteigen – die Wanderung entlang des Traumpfades fortsetzen. Am Nebentisch hingegen sitzen zwei junge Männer, die wir gestern auf der Dominikushütte zum ersten Mal gesehen haben. Sie sind gerade wieder eingestiegen, nachdem sie im vergangenen Jahr begonnen haben, den Traumpfad zu laufen.
Der frühe Vogel fängt die Vortagsbrötchen
Für die kommenden Tage ist unbeständiges Wetter angesagt. Morgen steht mit der Überquerung der Gliederscharte wieder eine Etappe an, auf der es im Falle von Unwettern kaum Schutzmöglichkeiten gibt. Wir fragen deshalb nach, ob wir schon 6.00 Uhr frühstücken können. Die Wirtin bietet uns an, heute Abend das Frühstück für uns herzurichten. Wir müssten uns nur mit den Brötchen vom Vortag begnügen, denn so früh wird der Bäcker noch nicht da gewesen sein. Das nehmen wir gern in Kauf und verabschieden uns ins Bett.



Auch dort kreisen meine Gedanken noch eine ganze Weile. Schon das letzte Land unserer Reise… Abschiedsgefühle und Wehmut machen sich breit. Es fühlt sich an, als wäre unsere Wanderung bald vorbei. Ein riesiger Irrtum. Denn das größte Abenteuer und die größten Herausforderungen würden noch vor uns liegen.