Den Wecker haben wir heute Morgen nicht gebraucht. Die Wände zwischen den Lagern sind dünn und unser Schlaf nur seicht. Schnell packen wir alles zusammen, um Punkt 7.00 Uhr beim Frühstück zu erscheinen. In mir brodelt es noch immer, als ich die Servicedame sehe. Brot, Käse und Marmelade gibt es auf Zuteilung. Eine Scheibe Brot esse ich, die anderen zwei schmiere ich für unterwegs. Armin und Johanna erklären uns beim Frühstück, dass sie nun doch nicht die Friesenbergscharte gehen werden. Der Berg hängt heute Morgen noch in den Wolken. Sie wollen lieber nichts riskieren und gehen deshalb zur Geraer Hütte.
Wir überlegen kurz, sind aber fest entschlossen. Nicht ganz unwesentlich bei der Entscheidungsfindung ist die Aussicht auf das gebuchte Doppelzimmer in der Dominikushütte. Würden wir jetzt noch umplanen, gebe es vermutlich nur Lagerplätze. Ein Pärchen, das im anderen Lager geschlafen hat, will auch die Scharte gehen. Zehn nach sieben gehen sie los. Schnell schaufeln wir unser spärliches Frühstück rein, um uns an ihre Fersen zu heften. Gern hätten wir die Sicherheit, nicht allein über die Scharte gehen zu müssen.
Am Tuxer Gletscher
Den Berg hinunter geht es über die Zubringerstraße. Es folgt ein weiterer Hartscher auf der Straße am gegenüberliegenden Berg hinauf. Wir passieren das Spannagelhaus. Bis vor einigen Jahren gab es auch hier Schlafplätze für Traumpfad-Wanderer. Da sich aber kein neuer Pächter fand, wurde der Sommerbetrieb eingestellt. Das Haus ist seitdem nur noch ein Restaurant – beliebt vor allem bei Skifahrern. Die Konkurrenz durch eine zweite Hütte würde wohl auch der Qualität des Tuxerjochauses gut tun, denken wir noch kurz und gehen weiter.



Der Weg führt jetzt über Geröll. Einen kleinen Gebirgsbach, der das Gletscherwasser ins Tal transportiert, queren wir noch, dann folgen nur noch Steine. Steil geht es nach oben den Wolken entgegen. Neben uns verläuft ein alter Weg, der mittlerweile gesperrt wurde. Immer wieder hören wir, wie Steine dort abgehen und sich geräuschvoll Richtung Tal bewegen. Ein bisschen mulmig ist uns schon. Doch mittlerweile haben wir das Pärchen fast eingeholt. Hinter uns kommt ein einzelner junger Mann, sein Name ist Franz, im Stechschritt den Berg hinauf. Er hat auch heute Morgen auf der Hütte gefrühstückt. Schon bald hat er uns eingeholt.



Über Schneefelder gehen wir am Tuxer Gletscher vorbei bis ganz nach oben. Von unten konnten wir schon erahnen, wie groß der Gletscher bis vor einigen Jahren noch gewesen sein muss. Hier oben sehen wir es nun noch deutlicher. Mir rutscht das Herz eine Etage tiefer, jetzt wo ich so nah daneben stehe und sehen kann, was die steigenden Temperaturen mit diesen beeindruckenden Naturwundern machen.
Nervenkitzel an der Friesenbergscharte
Wir liegen gut in der Zeit und das Wetter hält glücklicherweise. Auf der Friesenbergscharte ist es kalt. Der Wind steht an der Felswand. Hier sind wir auf 2.912 m über dem Meeresspiegel – bisher der höchste Punkt. Beim Blick auf die andere Seite entwischt Sebastian nur ein „Oh, Ohhh!“ Ich kann noch nichts sehen. Die anderen verdecken die Sicht. Seit etwa 15 Minuten wartet Franz hier oben auf uns. Er startet als Erster nach unten.




Jetzt erst wird auch der Blick für mich frei. Eine steile Schieferwand mit Stahlseilen gesichert streckt sich nach unten zum weiterführenden Wanderweg. Dahinter liegt der Friesenbergsee wie ein blaues Auge in einer Mondlandschaft. Daneben thront das Friesenberghaus. Ein bisschen schlecht ist mir schon beim Anblick des bevorstehenden Abstiegs. Doch wir treten sie an – die Flucht nach vorn oder eben nach unten. Glücklicherweise ist der Schiefer trocken. Schritt für Schritt mit festem Griff an den Seilen tasten wir uns voran.

Nach etwa 30 Minuten ist es geschafft. Wieder steht Franz schon rund 20 Minuten am nächsten Wegweiser und wartet auf uns. Noch kurz laufen wir mit ihm und dem Pärchen Richtung Olpererhütte, bevor sich die Wege trennen, denn wir müssen ins Tal. Am Friesenberghaus machen wir kurz Rast und essen nach diesem kribbeligen Abstieg einen zünftigen Jausenteller. Ab und zu kommt die Sonne heraus. Trotzdem ist es hier oben frisch. Wir laufen weiter. Ab jetzt geht es nur noch bergab über Wiesen, Weiden und etwas Geröll.

Abstieg zum Schlegeisspeicher
Die Aussicht in die gegenüberliegenden Berge und Täler ist wunderschön. Immer wieder halten wir inne, um die Natur zu genießen. Dann taucht hinter dem Berg der Schlegeisspeichersee auf. Himmelblau liegt er zwischen den steil aufragenden Bergen. Direkt neben dem See steht unsere Hütte, die wir gegen 15.30 Uhr erreichen.



Etwas abgekämpft setzen wir die Rucksäcke auf der Terrasse ab. Oben auf dem Balkon sehen wir wieder alte Bekannte. Die Familie mit den zwei Töchtern im Teenie-Alter, die wir das erste Mal auf der Lizumer Hütte getroffen haben, ist schon da. Der Vater klatscht in die Hände, als wir in der Hütte einlaufen. Sie sind heute Morgen vom Tuxerjochhaus abgestiegen, um mit dem Bus durch die Täler auf die andere Seite des Berges zufahren und hier wieder aufzusteigen. Erst kommen die Töchter heraus und fragen, wie es war, später auch die Eltern. Schließlich sind die umsitzenden Gäste so neugierig, dass wir auch ein drittes Mal erzählen, wie der Abstieg über die Friesenbergscharte war.
Auf der Terrasse begrüßt uns der Wirt – ein stämmig gebauter Mann in seinen späten 50ern, mit rötlichen Haaren und Bart. Auf dem Kopf trägt er einen Hut mit weiter Krempe und aufgesticktem Edelweiß. „Wir haben eigentlich zwei Schlafplätze gebucht“, meint Sebastian. „Was heißt eigentlich?“, fragt der Wirt. „Wollt ihr weitergehen?“ „Wir gehen heute nirgendwo mehr hin!“, platzt es aus mir heraus. „Wir würden nur gern erst etwas trinken und essen.“ Gesagt, getan. Wir pflanzen uns auf die Terrasse, trinken zwei Radler und essen ein Stück Quarkstrudel.
Dominikushütte oder das Paradies für Venediggeher
Dann erklärt uns Heiko, der Wirt, wie die Hütte funktioniert: In unserem Doppelzimmer haben wir Bettwäsche, Handtücher und sogar ein eigenes Waschbecken. Im Keller gibt es eine Dusche mit warmem Wasser gegen Bezahlung. Kostenlos ist hingegen der Wäscheservice. Glücklich schnaufen wir durch. „Ja, das ist das Highlight für unsere München-Venediggeher.“ Ab 7.00 Uhr gibt es Frühstück. Dann liege auch unsere Wäsche gewaschen und getrocknet bereit.

Nach der vorherigen Hütte ist diese Unterkunft das wahre Paradies. In unserem Zimmer würden normalerweise vier Personen Platz finden. Doch wir haben es für uns allein. Eine Stunde nach unserer Ankunft schüttet es wieder und wir sind froh drinnen zu sein.
Sebastian sammelt unsere Klamotten zusammen. Auch die Handtücher geben wir in die Wäsche. Er ist noch etwas skeptisch und fragt bei Heiko nach, wie er am nächsten Tag all die Kleidungsstücke der Gäste auseinanderhalten möchte. Heiko erklärt: Es gilt das Prinzip der offenen Augen. Heute sei das erste Mal in zwölf Jahren ein Paar Socken weggekommen. In der Regel passiere das nicht und so geben wir die Sachen in die Wäsche. Bei einem kleinen Nickerchen lassen wir den Regen vorbeiziehen und gehen schließlich nach unten zum Abendessen. Dort sitzen wir mit zwei jungen Österreichern am Tisch. Wie jeden Abend kommen wir auch jetzt wieder schnell ins Gespräch übers Wandern, die erlebten und bevorstehenden Touren.
Mystische Bergwelt
Sebastian lässt sich später Spaghetti Bolognese schmecken, während ich mich zur Abwechslung über etwas Frisches freue: Salat mit Putenbruststreifen. Die Bedienung – wie wir später erfahren werden, Heikos Frau – ist unglaublich freundlich. Draußen ziehen die tief hängenden Wolken schnell vorbüber. Von einem zum anderen Moment ist der riesige Speichersee vor dem Panoramafenster verschwunden und taucht wenig später aus dem Nichts wieder auf.



Um nach dem guten Essen noch etwas zu verdauen, ziehen wir noch einmal die Schuhe an für einen kleinen Spaziergang auf der Staumauer. Es ist eine gespenstische Atmosphäre, da der See minütlich in den Wolken verschwindet und wieder erscheint. Wir genießen die kühle aber frische Luft nach dem Regen und gehen an diesem Abend deutlich zufriedener ins Bett.
Ein Kommentar zu “10. Etappe: Tuxerjochhaus – Dominikushütte”
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