Der allerletzte Tag. Ich komme mit dem Gedanken irgendwie nicht klar, als ich am Morgen die Augen öffne. Venedig hat uns die ganze Zeit magisch angezogen. Jetzt ist die Lagunenstadt so nah und ich möchte nur noch in die andere Richtung davon laufen, niemals ankommen. Ein letztes Mal packen wir unsere schweren Rucksäcke. Draußen brennt, wie sollte es anders sein, die Sonne schon wieder auf den Asphalt.





Nach dem Frühstück bezahlen wir bei unserem Gastgeber und machen uns gegen 9.00 Uhr auf den Weg. Meine Waden brennen noch immer feuerrot. Doch das Ziel so nah vor Augen lässt die Schmerzen in den Hintergrund treten. 15 Kilometer liegen vor uns. Der Außengürtel von Mestre ist alles andere als schön. Staub, Asphalt, verbranntes Gras, Industriehallen und Güterzüge prägen unsere letzten Meter auf dem Festland. Der Bahnhofsknoten ist unser erstes Zwischenziel. Auf der Hauptstraße schiebt sich eine Blechraupe aus Autos, Zügen und Bussen in Richtung der Lagune. Wir folgen dem Verkehrsstrom auf die Brücke.
Das Meer
Dann endlich können wir es sehen. Türkis glitzerndes Wasser, im Hintergrund die markanten Türme und Kuppeln der Altstadt. Das Meer. Unaufhaltsam schießen mir die Tränen in die Augen. Für einige Augenblicke spüre ich, wie ich förmlich in mir zusammensacke. „VENEZIA“ steht in großen Lettern auf einem Schild. Wie lang habe ich davon geträumt. Wie sehr habe ich mir gewünscht, diesen Moment zu erleben.



Bilder der vergangenen Wochen laufen wie ein Film durch meinen Kopf: die harten Etappen nach Bad Tölz, Momente voller Zweifel, die ersten atemberaubenden Aussichten in den Zentralalpen, wunderbare Begegnungen mit den Einheimischen und Wirten, lange Hüttenabende, unsere Besteigung des Piz Boè, Gitarrenklänge am Feuer, die beeindruckende Kulisse der Dolomiten, die Ruhe, der Regen, der Schnee, die Hitze im italienischen Flachland aber vor allem die Gleichheit unter den Wanderern.
Die Stadt
Dankbarkeit und Wehmut tragen mich mit leichten Schritten über die Brücke nach Venedig. Touristenströme drängen sich durch die engen Gassen. Fast alle haben sie ein Ziel: den Markusplatz, wie wir. An jeder zweiten Ecke schnappe ich deutsche Wortfetzen auf. Wir wühlen uns durch eine Reisegruppe aus Senioren. „Die sind aber schwer bepackt und das zu Fuß“, meint ein älterer Herr. „Ja, und das schon seit München,“ rufe ich zurück. Ein Raunen geht durch die Gruppe. Doch schon bald ist sie außer Hörweite. Die Menschenmassen stressen mich. Über die Rialto-Brücke ist es nur noch ein Drücken und Schieben. Fast eine Stunde nachdem wir die Zugbrücke verlassen haben, durchqueren wir die Prokuratien und sind endgültig am Ziel: auf dem Markusplatz.



Der Markusplatz
Ich denke an die Türme der Frauenkirche auf dem Marienplatz in München zurück. Vor uns steht jetzt genau vier Wochen später und rund 600 Kilometer weiter der Markusturm. Wir genießen den Moment und stehen einfach nur still da. Klassische Musik schallt aus den Cafés über den Platz. Touristen tummeln sich. Einige beäugen uns verwundert, laufen weiter. Wir verschwinden in der Masse der Menschen, werden eins mit ihr.


„Jetzt gönnen wir uns was“, meint Sebastian und steuert eines der Restaurants direkt am Platz an. Die klassische Musik ist live, zum Besten gegeben von einem Streichquartett in schicker Abendgarderobe. Mit unseren durchgeschwitzten Wanderklamotten fallen wir komplett aus dem Rahmen. Nach der Leistung haben wir uns den Aperol Spritz mit Oliven und Chips aber auch mehr als alle anderen um uns herum verdient – auch wenn der mit 30 Euro ordentlich in die Reisekasse einschlägt. Der Augenblick ist unbezahlbar. Körperlich sind wir an unserem Ziel angekommen. Aber die Gedanken werden wohl noch eine Weile auf dieser Reise bleiben.
Am Ziele deiner Wünsche wirst du jedenfalls eines vermissen: dein Wandern zum Ziel.
Marie von Ebner-Eschenbach