Die freudige Erwartung, die mich an fast jedem Morgen begleitet hat, ist heute einem ängstlichen In-Sich-Hineinhören gewichen. Regungslos bleibe ich noch minutenlang im Bett liegen, aus Sorge, die Schmerzen in den Beinen könnten noch immer da, wohl möglich sogar schlimmer sein. Schließlich überwinde ich mich und stelle fest: Ja, die Schmerzen sind noch da. Ich kann aber besser laufen als am Vorabend und zumindest ist es nicht schlimmer geworden. Dank Routine sind unsere Rucksäcke binnen weniger Minuten gepackt, die Brötchen geschmiert und die Schuhe geschnürt.
Heute Morgen krieg ich gerade mal einen Kaffee runter. Seit zwei Tagen nehme ich zusätzlich Antihistaminika gegen den Insektenstich am Bein. Der Blick auf meine Unterschenkel lässt mich daran zweifeln, dass es „nur“ ein beidseitiger Sonnenbrand ist, der mir seit unserer Ankunft in der Ebene zusätzlich zu schaffen macht. Auch das sieht eher nach einer allergischen Reaktion aus. Ich werde deshalb heute mit langen Hosen laufen, um die Beine vor der Sonne zu schützen.
Ferragosto oder der heißeste Tag des Jahres
7.30 Uhr schließen wir die Appartmenttür hinter uns und laufen los in Richtung des Flusses Sile. Die Temperaturen sind sehr angenehm und an den Ufern der Sile stehen überall Bäume. Einige Jogger und Radfahrer sind unterwegs. Es ist eine herrliche Morgenstimmung an diesem 15. August. Es ist Ferragosto – Feiertag in Italien. Dieses Datum kennzeichnet für die Italiener den heißesten Tag des Jahres und somit den Wendepunkt des Sommers. Viele nehmen rund um diesen Tag Urlaub, um mit ihren Familien an die kühlen Orte im Land zu fahren, also ans Meer oder in die Berge. Für Wochen ist das Land dann wie ausgestorben, kommen wirtschaftliches und öffentliches Leben zur Ruhe. In den vergangenen Tagen haben wir das schon mehrfach durch geschlossene Restaurants, Hotels und sogar Supermärkte zu spüren bekommen. Es wirkt ein wenig wie eine staatlich verordnete Ferienzeit.




Wir kommen gut voran. Die Sile bildet an einigen Stellen ein kompliziert verzweigtes Netz aus kleinen Zu- und Abflüssen. Immer wieder überqueren wir Holzbrücken und -stege. Bis Lughigiano laufen wir am Fluss entlang. Dann müssen wir uns schon wieder vom schützenden Schatten der Bäume und dem kühlen Klima des Flusses verabschieden. Die Sonne umarmt uns am späten Vormittag erbarmungslos mit all ihrer Kraft. Nationalstraßen und Asphalt sind nun wieder unsere Begleiter. Wir denken nur noch ans Ankommen. Der Genuss der Berge, des Wanderns, der Reise ist weg. Was übrig bleibt, ist der unbedingte, ja verbissene Wille, es zu schaffen. Nur so ist zu erklären, weshalb wir bei sengender Hitze stark befahrenen Schnellstraßen folgen und in Ermangelung von Fußwegen Kreisverkehre zu Fuß gehen. Nur für einige hundert Meter wandern wir an diesem Morgen auf Feldwegen.
Harte letzte Kilometer
Gegen 12.00 Uhr erreichen wir Marcon, wo wir im Schatten einiger Bäume eine Pause einlegen und etwas essen. Die Stimmung ist angekratzt und bevor wir streiten, schweigen wir uns lieber an. Nach einem Brötchen, Gurke, Tomaten und Frischkäse, komme ich kaum wieder auf die Beine. Die Schmerzen sind mit aller Wucht zurück. Aber ich beiße die Zähne zusammen, wechsel die Wattepads auf den Brandblasen an Sebastians Schulter und hebe den Rucksack, um weiterzulaufen.

Das GPS will uns einen Umweg von rund drei Kilometern schicken. Wir denken, wir sind schlau und versuchen über eine direkte Verbindung auf der Karte schneller ans Ziel zu kommen. Doch die Straße endet vor einer Autobahnauffahrt. Fix und alle schmeißen wir erst einmal die Rucksäcke von uns. Unser Wasser ist fast leer und nun müssen wir ein ganzes Stück zurücklaufen. Wie sinnlos! Kurz darauf haben wir uns wieder gefangen, schultern die Rucksäcke und laufen weiter. Schattige Abschnitte gibt es schon lang nicht mehr. Mein Mund ist staubtrocken. Das Herz wummert hart gegen meine Rippen.
Sch***egal – Kreisverkehr geht auch zu Fuß
33°C zeigt ein digitales Thermometer an, kurz bevor wir Marcon verlassen, um wieder einer Nationalstraße zu folgen. Schon bald erreichen wir ein Autobahnkreuz mit vielen Auf- und Abfahrten, die durch einen gigantischen Kreisverkehr miteinander verbunden sind. Kurz schauen wir uns an. Sebastian ist vollkommen entnervt. Doch dieses erste Gefühl weicht einem Blick, der nur eines sagt: „Alles scheißegal. Wir gehen jetzt hier durch.“ Und das machen wir auch.



Gute Gedanken an die Zeit in den Bergen helfen nur noch marginal, um sich von den Schmerzen und streckenweise auch der Qual dieses Tages abzulenken. Beißen, beißen, beißen. „Immer einen Fuß vor den anderen“, wird zu meinem inneren Mantra. Ich muss mich extrem zusammenreißen, um nicht zwanghaft alle fünf Minuten auf den Kilometerstand des GPS zu schauen.
So fertig wie noch nie erreichen wir 15.00 Uhr unsere Pension im Außengürtel von Mestre. Der Vermieter bedenkt uns mit dem üblichen Staunen als wir ihm von unserer Reise berichten. Beim Check-In nimmt er sämtliche persönlichen Daten auf, kopiert unsere Ausweise. Es fühlt sich an, wie eine halbe Ewigkeit. Meine Beine sind Brei. Ich habe Angst, jeden Moment zusammenzuklappen. Irgendwann ist es endlich geschafft und der Gastgeber zeigt uns das Zimmer. Zu meiner Freude gibt es eine Badewanne. Nachdem wir die Rucksäcke abgesetzt und unsere Kleidung ein letztes Mal auf dieser Reise durchgewaschen haben, setze ich mich in die Wanne, um etwas abzukühlen.
Von der Sonne gestochen
Die Bewegungen laufen nur noch in Zeitlupe. Alles langsam, alles vorsichtig, alles ungelenk. Ich fühle mich wie eine alte Frau. Das Wasser läuft ein und obwohl es etwas weniger als Körpertemperatur hat, schickt es meinen Kreislauf auf eine Achterbahnfahrt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich meinen, meine Beine stehen in Flammen. Schüttelfrost packt mich. Meine Stirn ist heiß und fiebrig. Weil mir die Kraft fehlt, wieder aufzustehen, bleibe ich fast eine Stunde so liegen. Das war dann wohl so etwas wie ein Sonnenstich. Fix und fertig schleppe ich mich anschließend ins Bett, wo ich weitere zwei Stunden liegen bleibe.


Auch Sebastian ist quasi tot nach diesem Gewaltmarsch und schläft ebenfalls sofort ein. 18.00 Uhr klingelt der Wecker und wir machen uns auf den Weg zum Abendessen. In weiser Voraussicht habe ich gestern Abend schon einen Tisch in einer Pizzeria reserviert. Wir sind zwar die ersten Gäste. Aber innerhalb weniger Minuten füllt sich die Terrasse mit Italienern in feinem Zwirn, die sich zum Feiertagsschmaus versammeln. Auf dem Rückweg zur Pension schießen mir die Gedanken durch den Kopf. Morgen um diese Zeit werden wir in Venedig sitzen – in Venedig! Obwohl die letzten Tage so unglaublich fordernd waren, quält mich dieser Gedanke. Bilder der vergangenen vier Wochen überschlagen sich in meiner Erinnerung. Noch immer bin ich beeindruckt von der Gleichheit unter den Wanderern und der Welt, in die eintauchen durfte. Ich schlafe ein in innerer Zerrissenheit zwischen dem Ziel, den Markusplatz zu erreichen und dem Wunsch, die Freiheit dieser Reise nie enden zu lassen.