19. Etappe: Rifugio Vazzoler – Rifugio San Sebastiano (Passo Duran)

Offener Kamin Rifugio San Sebastiano

Die Wolken hängen noch in den Spitzen der Civetta, als wir gegen 7.00 Uhr all unsere Sachen wieder in den Rucksack packen. Zumindest ich habe gut geschlafen. Wie so oft war das untere Bett allerdings durchgelegen, sodass Sebastian etwas zerknirscht seine Sachen zusammen sucht. Auf der Hütte geht es heute Morgen gemütlich zu. Vor uns liegt keine sonderlich anspruchsvolle Etappe. Weniger als sechs Stunden Fußmarsch liegen vor uns. Doch wir brauchen endlich neues Waschmittel. Eine kleine Auswahl an Drogerieartikeln gibt es in der Hütte zu kaufen. Die italienischen Produktbeschreibungen können wir nicht lesen und da es hier auch kein Internet gibt, klappt der Google Übersetzer nicht. Wir verlassen uns also ganz auf das Verpackungsdesign und greifen beherzt zu einem kleinen grünen Döschen mit dem Bild einer offensichtlich hochzufriedenen Hausfrau, die ein weißes Hemd fest an sich drückt. Heute Abend ist dann große Wäsche angesagt.

Gegen 8.00 Uhr laufen wir los. Ab jetzt folgen wir dem Dolomitenhöhenweg 1. Bald schon können wir die Civetta nicht mehr sehen. Die Moiazza-Wände türmen sich nun links von uns auf. Der Himmel ist noch immer bedeckt. Hin und wieder reißt die Wolkendecke auf. Ebenso schnell tröpfelt es im nächsten Moment wieder. Wanderer treffen wir nun häufiger. Doch es ist nie überlaufen.

Meditative Stille

In unserem gewohnten Tempo laufen wir Stunde um Stunde hintereinander her. Manchmal liegen mehrere hundert Meter zwischen uns. Nach fast drei Wochen verlaufen die Tage schweigsamer. Anfangs sprachen wir noch viel über die Arbeit und den Alltag. Das alles haben wir jetzt hinter uns gelassen. Diese Welt scheint unglaublich fern. Unser Austausch beschränkt sich immer öfter auf ein stilles Staunen über die unbeschreibliche Natur, in der wir uns bewegen. Sonst ist jeder für sich mit seinen Gedanken. Die tägliche Routine aus laufen, essen und schlafen hat etwas Meditatives. Alles, was jetzt wichtig ist, sind Grundbedürfnisse. Nie war meine innere Zufriedenheit größer. Umso unangenehmer fühlt sich der Klumpen im Hals beim Gedanken an das nahende Ende dieser Reise an. Seit unserem Abstieg vom Piz Boè rückt Venedig in greifbare Nähe.

Blick auf das Moiazza-Massiv

Wie wird es wohl sein, wenn mich der Wahnsinn der Nachrichtenwelt im Tal wieder einholt? Wenn Machtfragen & Grabenkämpfe wieder in den Fokus meines Alltags treten? Wenn ich zurück sein und an genau diesen Moment hoch über den Wolken denken werde? Werde ich mich daran erinnern können, wie furchtbar wir das Getöse all der Wichtigtuer und unsere eigene Existenz überschätzen, weil wir auf dieser Welt eigentlich nur kleine Gäste auf Zeit sind? Ich hoffe es. Ich hoffe ganz fest, dass ich dieses Gefühl abrufen kann, wann immer ich von der scheinbaren Bedeutungsschwere drohe überrollt zu werden. Nichts ist schwer und nichts hat Bedeutung, solang ich es den Dingen nicht zugestehe.

Gegen 13.00 Uhr erreichen wir das Rifugio Bruto Carestiato. Wir genießen eine deftige Brotzeit auf der Terrasse und freuen uns über das gute Mobilfunknetz. So können wir sogar einige Runden des MotoGP-Qualifyings am Handy verfolgen. Minute für Minute wird die Hütte voller. Viele Wanderer, die heute Morgen am Rifugio Tissi gestartet sind, schlagen hier schon ihr Nachtlager auf. Wir laufen hingegen noch etwas weiter bis zum Passo Duran.

Fossilien und Steinpilze am Passo Duran

Kurz nach 14.00 Uhr kommen wir schließlich an der Passstraße an. Das Rifugio San Sebastiano liegt direkt daneben. Markant ist die riesige fossile Schnecke an der vorderen Giebelseite. Der Hüttenwirt, ein älterer Herr ohne Haar, stellt sich als Beniamino vor und beginnt in seinem Reservierungsbuch nachzuschlagen. Ich nenne ihm meinen Namen. „Ah Giulia, sehr schöner Name! Zwei Schlafplätze für dich und deinen Begleiter. Benimmt er sich auch?“ fragt Beniamino mit einem Augenzwinkern und breitem italienischem Akzent. Ich bejahe und frage zurück, ob wir für diese Nacht auch ein Zimmer anstelle der geplanten Lagerplätze haben können. Noch sei die Zimmeraufteilung nicht final. Er bittet um etwas Geduld und so setzen wir uns mit einem kühlen Radler auf die Terrasse. Die Wolken haben sich fast verzogen und wir lümmeln uns eine gute dreiviertel Stunde in die Sonne.

Rifugio San Sebastiano

Danach kommt die gute Nachricht, dass wir tatsächlich ein Doppelzimmer unter dem Dach haben können. Das räumlich getrennte Badezimmer werden wir uns mit anderen teilen, aber das ist okay. Spannend ist die Duschgelegenheit in der schlauchförmigen Nasszelle. Eine halbrunde Stange mit Duschvorhang hängt zwischen Toilette und Waschbecken. Die Brause ist an der Wand befestigt. Ein Duschbecken gibt es nicht, stattdessen einen Abfluss mitten im Raum. Nach der Campingdusche auf der Schlüterhütte hätten wir nicht gedacht, noch skurrilere Konstruktionen kennenzulernen. Aber das Badezimmer samt Dusche erfüllt seinen Zweck im Gegensatz zu dem vermeintlichen Waschmittel, das wir am Morgen gekauft hatten. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich dabei um Talk-Puder hadelt – gänzlich ungeeignet zum waschen. Wir drücken also die letzten Reste unseres Reisewaschmittels ins Waschbecken und reinigen unsere Klamotten.

Am Nachmittag bleibt nun genug Zeit, um in der Gaststube zu entspannen. Ein riesiger offener Kamin bildet das Herzstück des Raumes. Schwere rote Raffbanderolen säumen den Abzug über der Feuerstelle. Rundherum sind halbhohe Sitzbänke mit bunten Kissen darauf angeordnet. Ein Stammquerschnitt glüht in der Mitte. Beniamino kommt gelaufen und bringt das Feuer noch einmal ordentlich in Gang. Er streicht über einen mächtigen Stein, der am Rande der gemauerten Feuerstelle liegt. „Das ist eine Skulptur von einem befreundeten Künstler,“ erklärt Beniamino. „Sie heißt Steinpilz.“ Ein Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit. Unschwer ist zu erkennen, warum der Stein diesen Namen trägt. Wie Pilze ragen glatt polierte Knubbel aus der Oberfläche hervor. Der Steinpilz ist eine der zahlreichen fossilen und steinernen Errungenschaften, die überall auf Fensterbänken und Tischen in der Hütte verteilt liegen. „Ich bin Geologe,“ meint Beniamino mit einem noch breiteren Grinsen und ich bin mir unsicher, ob er mich in diesem Moment verschaukelt.

Offenbar hat sich der kleine alte Herr über viele Jahre dieses etwas verschrobene Rifugium geschaffen, dass er mit seiner charmant-albernen Art zu einem Gesamtkunstwerk abrundet. In diesem gemütlichen Gesamtkunstwerk sitzen wir also den ganzen Nachmittag bei Apfelstrudel und Kaffee und schauen in die knisternden Flammen. Später gesellt sich noch ein junges Pärchen dazu. Die beiden kommen deutlich hörbar aus dem Schwabenländle. Im letzten Jahr sind sie die erste Hälfte des Traumpfades gelaufen. Dieses Jahr steht nun die zweite Hälfte an. Die letzten Kilometer in der Ebene wollen sie allerdings mit dem Zug zurücklegen.

Kaminabend im Rifugio San Sebastiano

Je später es wird, desto voller wird die Hütte. Eine kleine Gruppe junger Italiener setzt sich auch zu uns ans Feuer. Einer von ihnen schnappt sich die Gitarre aus der Ecke und beginnt einige Akkorde zu zupfen, während er leise dazu summt. Der Himmel hat sich schon wieder zugezogen, als vor der Hütte eine größere französische Wandergruppe eintrifft. Wenig später hält auch noch ein Bus, aus dem jeder der Wanderer ein bis zwei große Gepäckstücke zerrt. Es ist eine dieser geführten Gruppen, die sich das Gepäck von Hütte zu Hütte fahren lassen und nur mit leichtem Tagesrucksack unterwegs sind. Auf uns, die wir am Feuer sitzen und zuvor mit einem Rucksack und sonst nichts diese Hütte erreicht haben, wirkt die Ankunft der nun schwer bepackten Luxuswanderer etwas befremdlich und so blicken wir ihnen nur staunend nach als sie schnaufend ihre Zimmer im ersten Stock beziehen.

Offene Kamine wie im Rifugio San Sebastiano sind im Veneto sehr typisch. In einigen Hütten und Restaurants wird über dem Feuer sogar noch traditionell gebraten oder gekocht.

Inzwischen schüttet es vor der Hütte in Strömen. Gewitter ziehen über den Pass. Um das Feuer im Kamin kümmert sich der Busfahrer der französischen Wandertruppe. Beniamino stellt ihn uns als einen guten Freund vor. Am Feuer entsteht ein reger Austausch über die verschiedenen Wanderrouten. Die Italiener laufen den Dolomitenhöhenweg 1. Vom Traumpfad München – Venedig hören sie allerdings zum ersten Mal und sind beeindruckt von der Strecke, die wir bereits zurückgelegt haben.

Viele Wege führen zu Gott

„Ludwig war so oft hier. Leider er ist vor zwei Jahren verstorben. Aber er hat mir das Buch geschenkt,“ mischt sich Beniamino ein und eilt los, um einen Bildband mit dem Titel „Traumpfad München – Venedig“ zu holen. Darin ist ein Foto von ihm abgedruckt, das er uns stolz präsentiert. Beniamino erzählt davon, wie er und Ludwig Graßler vor einigen Jahren gemeinsam das Leih- und Versandsystem für die Klettersteigsets der Venediggeher etabliert haben. Seitdem müssen die Wanderer ihren Gurt für die Schiara nicht mehr auf der ganzen Tour mitschleppen, sondern können sich hier ein Set leihen oder es zuvor an den Passo Duran schicken lassen. Wieder einmal wird spürbar, welche Bedeutung der Traumpfad und sein Erfinder nicht nur für die Wanderer sondern auch für jene hat, die entlang der Route leben.

Ludwig Graßler bleibt allgegenwärtig.

Als wir uns auf den Weg ins Bett machen, fällt mir schließlich ein großes Foto der Kapelle vom Halleranger ins Auge, das über der Tür zum Treppenhaus hängt. In der Ecke klemmt eine Trauerkarte mit dem Foto von Ludwig Graßler. Ich bin kein religiöser Mensch und dennoch kann ich sagen, dass sich der salbungsvolle Trauerspruch auf dieser Karte tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat: „Viele Wege führen zu Gott, einer davon über die Berge.“

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