Nach Wochen des Laufens fühlt es sich ganz komisch an, in den Caravan zu steigen, den Sebastian für seinen Urlaub geliehen hat. Während ich den Karnischen Höhenweg gegangen bin, ist er mit dem Mountainbike in den vergangenen Tagen bereits einige Alpenpässe abgefahren. Jetzt steuern wir gemeinsam jenen Campingplatz an, auf dem ich mit meinen Eltern zuletzt vor 24 Jahren eingecheckt habe. Es ist ein seltsames und zugleich vertrautes Gefühl, als wir durch die Schranke auf den Caravanplatz einbiegen. So manche Ecke erkenne ich wieder und freue mich innerlich.
Tatsächlich finde ich während der gemeinsamen Tage in den Dolomiten in eine Art Urlaubsmodus, verschwinde unter den anderen Campinggästen. Kein schwerer Rucksack verrät mich, keine Bergstiefel, keine Wanderstöcke. Stattdessen Sommerkleid, Radlerhose, Fahrrad. Bei bestem Sommerwetter genießen Sebastian und ich die gemeinsame Zeit, radeln nach Bruneck und Toblach. Zu gut kenne ich die Skiarena vom Winter. Vor nicht einmal einem halben Jahr sind wir mit Ski um den halbgefrorenen Toblacher See geskatet. Jetzt glitzert er blau in der Sonne. Ausschlafen, Eis essen, Spritz trinken, den Menschen beim Flanieren durch die Gassen Brunecks zuschauen. Es fühlt sich leicht an, wie jeder andere Urlaub, den wir bisher zusammen verbracht haben. Der Van ist unsere kleine Koje, unser zu Hause auf vier Rädern, wie vor zwei Jahren bei unserem Roadtrip nach Norwegen und Schweden. Nur, dass es diesmal nicht aus Eimern schüttet, wir nicht in einem viel zu kleinen Auto festsitzen und uns anzoffen.


















Wie weiter?
Es ist harmonisch und beinah könnte ich vergessen, dass gerade erst ein Drittel meiner Reise hinter mir liegt und ich bald schon wieder allein weiterlaufen werde. „Wie willst du weitergehen?“ fragt Sebastian mich. „Durch das Fischleintal könnte ich zu den Drei Zinnen aufsteigen und beim Lago di Misurina wieder hinab.“ Laut meiner umfangreichen Planungstabelle liegt genau dort ein Campingplatz. „Wir könnten uns am See treffen. Auch in Cortina d’Ampezzo gibt es Campingplätze. So könnten wir noch zwei halbe Tage länger gemeinsam verbringen,“ schlage ich vor. Sebastian überlegt kurz. „Ok, klingt nach einem Plan.“ Ich klingel auf den Campingplätzen durch, reserviere Stellplätze und plane die darauffolgenden Übernachtungen.
Bald schon werde ich die Reiseroute der ersten Alpenüberquerung erreichen. In mir wächst schon seit einigen Wochen ein Wunsch. Noch einmal möchte ich an die höchste Stelle dieser ersten großen Reise zurückkehren: auf den Piz Boè inmitten des Sellastocks. Obwohl er als einer der einfachsten 3.000er gilt, führt der Aufstieg von Nordosten kommend über Klettersteige durch das Val Setus. Nur bei optimalen Bedingungen würde ich diese Tour allein wagen. Die Wetteraussichten für jenen Tag sind durchwachsen. Regen, Wolken, Wind. Dennoch reserviere ich das letzte freie Zimmer im Rifugio Frara am Passo Gardena. Notfalls ließe sich die Sella in Richtung Langkofel auch umgehen.
Durch das Fischleintal in die Monti Pallidi
Nach drei Pausentagen schnüre ich erneut meine Wanderschuhe. Mein linker Fuß schmerzt heftig. Statt zu heilen, hat sich die Überlastung deutlich verschlechtert. Kurz nach dem Aufstehen ist es am schlimmsten. Jeder Schritt löst einen kleinen inneren Schrei aus. Doch ich beiße die Zähne zusammen, drücke die Schmerzen weg.
Nicht aufgeben. Das wird schon wieder. Geh darüber hinweg.
Anstelle der schweren und steifen Bergstiefel entscheide ich mich für Trailrunningschuhe auf den kommenden zwei Etappen. Zusammen mit leichtem Tagesgepäck werden sie für Entlastung sorgen, so meine Hoffnung.












Es ist der Morgen des 28. Juni als Sebastian mich wieder nach Moos zurückfährt. Ich hüpfe aus dem Auto, werfe ihm noch einen Kuss zu und laufe geradewegs hinein in das Fischleintal. Allein bin ich hier nicht. Zahlreiche Tageswanderer pilgern in Richtung der Drei Zinnen, der wohl bekanntesten Formation in den Dolomiten.
Vor etwa 280 Millionen Jahren begann die geologische Geschichte dieser Gebirgsregion, als eine Bergkette am Rande des ozeanischen Golfs Stück für Stück absank. Durch Sedimentablagerungen entstanden in dem warmen Meeresbecken unsichtbare Paläste aus Kalk. Erst als die Kontinente zu driften begannen, kamen sie zum Vorschein. Magma und Druck veränderten den alten Kalk, mischten ihm Magnesium bei – so entstand das helle, besondere Gestein. Wie steinerne Kathedralen wuchsen die Berge gen Himmel. Eis, Wasser und Wind gaben den einstigen Korallenriffen ihre heutige Form. Der französische Geologe Déodat de Dolomieu beschrieb Ende des 18. Jahrhunderts als erster das charakteristische Gestein. Ihm verdanken die Dolomiten ihren heutigen Namen. Doch lange zuvor schon sprachen die Bewohner der Täler von den „Monti Pallidi“ – von den Bleichen Bergen, die sie umgaben.
Drei Zinnen oder Freizeitpark?
An der Talschlusshütte dünnt sich die Touristengruppe ein wenig aus. Dennoch staut es sich immer wieder auf den Wanderwegen. Mittlerweile bin ich zügig unterwegs. Als die Steigung erstmals zunimmt, schnauft es um mich herum wie in einem Dampflokdepot. Nach lichten Nadelwäldern folgen Bergkiefern und bald schon karstige Hochalmflächen. Ich blicke zurück und kann die Karnischen Alpen erkennen. Der Eisenreichgipfel sendet einen letzten Gruß. Mit jedem Schritt, den ich mich der Dreizinnenhütte nähere, steigt der Geräuschpegel. Eine japanische Großfamilie posiert auf einer Sitzgruppe vor dem Panorama der imposanten Felstürme. Eine lange Schlange zieht sich vom Eingang der Dreizinnenhütte, über die eiserne Treppe bis hinunter auf das Felsplateau. Auf der Terrasse ist kein Platz mehr zu bekommen. Selfiesticks fliegen durch die Luft. Wild werden Körperteile und Haare für das perfekte Foto geschwungen. Laut rufend versucht so mancher verlorene Wanderausflügler den Rest seiner Reisegruppe wiederzufinden. Am eigentümlichsten erscheinen mir aber einige chinesische Touristinnen, die in mindestens 20 Zentimeter hohen Plateauschuhen über die schmalen Wanderpfade stolpern.

Insgesamt erinnert mich die Kulisse eher an einen Freizeitpark als an ein Schutzgebiet. Unbehagen durchströmt mich und so laufe ich rasch weiter entgegen des Touristenstroms. Die meisten von ihnen fahren vom Lago di Misurina kommend über die Mautstraße bis hinauf zum letzten Parkplatz. Die letzten Kilometer bis zur Nordseite der Drei Zinnen sind unschwer und sogar mit dem Kinderwagen zu bewältigen. Nichtsdestotrotz stakst so mancher Turnschuhabenteurer bisweilen überfordert durch die alpine Landschaft. Auch die Terrasse des Rifugio Lavaredo ist voll besetzt. Zum Glück haben sich Sebastian und ich erst am Rifugio Auronzo verabredet. Mit dem Mountainbike will er die Mautstraße hinauffahren. Weil ich gut in der Zeit liege, bleibt mir ein Moment, um den atemberaubenden Ausblick über Auronzo di Cadore und den azurblauen Lago di Santa Caterina zu genießen. In bizarren Nadeln ragt südlich vor mir die Cadini-Gruppe empor.
ERZ und Z am Lago di Misurina
An der Mautstraße direkt neben dem Rifugio warte ich schließlich. Zehn Minuten vergehen. 15 Minuten. 20 Minuten. Doch Sebastian taucht nicht auf. Unruhig rufe ich an. „Ich glaube ich habe mich völlig verfahren,“ meint er. „Ok, dann treffen wir uns unten,“ antworte ich und kann die Enttäuschung in meiner Stimme nicht ganz zurückhalten. Kein gemeinsames Essen auf einer Berghütte also. Ich steige ab und schlagartig leeren sich die Wanderwege. Knapp oberhalb des Misurinasees kommt Sebastian mir entgegengelaufen. Mit einem breiten Lächeln freue ich mich, dass wir wenigstens den letzten Kilometer bis zum Campingplatz gemeinsam zurücklegen.





Trotz bescheidener Ausstattung und ordentlichen Preisen, ist dieser prall gefüllt. Auch auf dem angrenzenden Parkplatz stehen Wohnmobile dicht an dicht. Am Abend genießen wir das Alpenglühen auf der Südseite der Drei Zinnen bei einem Glas Lillet Wild Berry in der Bar. Als wir wieder zu unserem Van schlendern, fällt mir an der Einfahrt ein Auto mit Zwickauer Kennzeichen ins Auge. An den Dacia ist ein oranger Anhänger montiert. In den kleinen Fenstern des Autos sind Leinen gespannt, darüber hängen allerhand Kleidungsstücke. Ich wundere mich noch über das eigenwillige Gespann aus unserer Heimat. Am nächsten Morgen dann machen wir schließlich noch Bekanntschaft mit seinem Besitzer. Ein kleiner, untersetzter älterer Herr kaut Sebastian ein Ohr ab, als ich vom Abwasch zurück an den Van komme. Auch ihm ist das heimatliche „ERZ“-Kennzeichen unseres Leihfahrzeugs aufgefallen. „Ja, früher konnte man mit dem Wohnmobil noch nach Venedig hineinfahren, Neapel, Rom. Hab ich alles gesehen. Heute darf man nirgendwo mehr rein. Aber ich habe mir alles umgebaut,“ meint er in breitem Sächsisch und deutet auf den orangen Kippanhänger. Zwei Biotoiletten habe er darin und sogar eine Dusche. Ich reibe mir die Augen und kann es gar nicht so richtig glauben. Noch eine Weile sinniert er über die viel zu teuren Leihgebühren für Vans, wie unseren, beschwert sich, wie er vor Jahren von einem Händler über’s Ohr gehauen wurde. Das Gemeckere zieht meine Stimmung nach unten. Das ist wieder typisch, denke ist und atme innerlich auf, als der Camper sich endlich wieder seinem Kippanhänger zuwendet.

Wir verstauen ebenfalls alles wieder im Auto. Erneut schnüre ich meine leichten Trailrunningschuhe, schultere den Tagesrucksack und mache mich auf den Weg in Richtung Cortina d’Ampezzo, während Sebastian mit dem Van vorausfährt. Die ersten Schritte des Tages schmerzen. Die Überlastung im Fuß ist kaum besser geworden. Im Gegenteil, fast scheint es, als würde das leichte Schuhwerk den Schmerz noch verstärken. Nach ein paar Metern wird es langsam besser.
Nach Cortina d’Ampezzo
Grünlich blau wie geschmolzenes Glas glitzert der Lago di Misurina im Sonnenlicht. Dahinter türmen sich die Gipfel der Sorapiss-Gruppe auf. Etliche Touristen und Ausflügler schlendern an seinen Ufern entlang. Noch sind die bunten Tretboote leer, doch erste Kajakfahrer lassen ihre Schiffchen zu Wasser. Um nach Cortina d’Ampezzo zu gelangen, folge ich zunächst einigen Mountainbike-Strecken durch den Wald. Einen durchgängigen Wanderweg gibt es jedoch nicht und so finde ich mich auf einer stark befahrenen Gebirgsstraße unterhalb des Monte Cristallo wieder. Motorräder und Sportwagen brausen ebenso an mir vorüber wie schwere Lastwagen. Duzende Wohnmobilen und Vans parken eng aneinander nahe des Passo Tre Croci. Überall ist zu spüren, wie stark die Dolomiten mittlerweile touristisch erschlossen sind. Ich überquere die kleine Kuppe und erblicke die Tofana-Gruppe. Ihre monumentale Erscheinung packt mich. Wieder einmal rollen mir unvermittelt Tränen aus den Augen. Für mich ist es zusehends schwerer zu begreifen, dass ich all diese wunderbaren Orte allein durch die Kraft meines Körpers erreiche. So überfluten mich von Zeit zu Zeit die Emotionen – eine wilde Mischung aus Traurigkeit, Freude, Euphorie.


















Mit „Floating through Space“ in den Ohren schlendere ich leichtfüßig entlang der Baumgrenze oberhalb von Cortina. Als ich das Städtchen erreiche, hämmert, bohrt und baggert es an jeder Ecke. Die Olympischen Winterspiele werfen ihre Schatten voraus. Hotels wachsen in die Höhe, Tiefgaragen werden freigelegt, Parkplätze asphaltiert. Über 20 Baukräne kann ich über den Dächern der Stadt zählen. Der Krach überfordert mich ein wenig. Schnellen Schrittes erreiche ich den Campingplatz. Basti ist gerade von seiner Radtour zurück. Gemeinsam leeren wir einen riesigen Topf Nudeln mit Tomatensoße. Seitdem ich wandere, können die Portionen nicht groß genug sein. Im sanften Abendlicht spazieren wir hinauf in die Stadt. Vor der Campanile im Zentrum zählt eine Uhr die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis Olympia herunter. Die schicken Auslagen in den Schaufenstern tragen nur vereinzelt Preisschilder. Aber das ist auch nicht nötig. Pelzmantel, Designer-Skibrille und Schweizer Uhr sind für den schmalen Taler nicht zu haben. Cortina ist ein teures Pflaster und so begnügen wir uns mit einem Eisbecher. Für die zentrale Lage direkt am Markt ist dieser wiederum ausgesprochen preisgünstig. Währenddessen versinkt die Sonne hinter der Tofana die Mezzo. Dramatisch umrahmt das Licht den Gipfel beinah wie ein Heiligenschein. Kitschiger hätte man es sich nicht ausmalen können. Es ist ein schöner vorerst letzter gemeinsamer Abend. Morgen werde ich für die nächsten drei Wochen allein weiterziehen.
Abschied und Wiedersehen
Es ist ein komisches Gefühl, als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlage und durch das Dachfenster des Vans in die Baumwipfel und den wolkenverhangenen Himmel blicke. Ein paar Mal muss ich die Tränen herunterschlucken beim Gedanken an den bevorstehenden Abschied. Sebastian geht es ähnlich. Schweigsam essen wir unser Frühstück. Ich suche all meine Habseligkeiten zusammen. Diesmal darf ich nichts im Camper vergessen. Noch einmal umarmen wir uns, dann hüpfe ich hinter der Schranke des Campingplatzes aus dem Auto, schließe die Tür und sehe dem Van solang nach, bis er hinter den Bäumen verschwindet. Wieder allein. Diesmal laufen für einen kurzen Moment leise Tränen. Doch viel Zeit für Trübsal bleibt nicht. Im Laufe des Tages soll ein Unwetter aufziehen. Drückende Schwüle liegt bereits jetzt am Morgen in der Luft.

Durch das Val di Falzarego steige ich auf. Der Wanderweg begleitet neben einem malerischen Bachlauf auch die nahegelegene Passstraße. Es dauert nicht lang und schon gehören auch die breiten Schneisen der Skipisten und die Masten der Liftanlagen zum Landschaftsbild. Ich quere überfüllte Parkplätze. Wenig später baumeln die Besitzer der Blechlawinen im Sessellift über meinen Kopf hinweg. Südlich ragen die Cinque Torri in die Höhe. Doch ich laufe weiter gen Westen und erreiche den Passo Falzarego. Ein breites Lächeln huscht über mein Gesicht. Zwischen den dunklen Wolken kann ich die Königin der Dolomiten erkennen: die Marmolata – zum ersten Mal auf dieser Reise. Ihr Name leitet sich vom Lateinischen marmor ab, das wiederum seine Wurzeln im Griechischen hat und so viel wie schimmern oder glänzen bedeutet. Diese Bezeichnung trägt der Berg nicht zu Unrecht. So kann ich mich noch gut an das Funkeln ihrer vergletscherten Nordwände im Sonnenlicht erinnern. Vor vier Jahren war das auf der Alpenüberquerung von München nach Venedig.

















Zahlreiche Kletterer hängen an den Nordwänden der Sas de Stria-Gruppe. Dunkel und ruhig liegt der Lago di Valparola unterhalb des gleichnamigen Passes und Rifugios – mein heutiges Ziel. Trockenen Fußes erreiche ich bereits 14.00 Uhr den Pass und beziehe mein gemütliches Doppelzimmer. So bleibt mir genügend Zeit, um zu waschen, zu entspannen und die kommenden Tage zu planen. Das Abendessen ist gut. Spaghetti aglio olio, Salat, Gulasch. Zum Nachtisch Panna Cotta. Einzig die breiartige Polenta bleibt für mich ein zweifelhaftes Vergnügen in den italienischen Bergen.
Erst gegen 21.00 Uhr und damit viel später als vorausgesagt donnert das Gewitter über den Pass. In meinem warmen Bett genieße ich das Grummeln vor dem Fenster. Bis in die Morgenstunden soll es sich vollständig verzogen haben und zu meiner großen Freude ist auch für die kommenden Tage bestes Sommerwetter angekündigt. Bleibt es dabei, kann ich übermorgen tatsächlich noch einmal den Piz Boè überschreiten. Doch schon beim Gedanken an morgen kribbelt es in meinem Bauch. Ich erreiche Südtirol.
Wie unglaublich! Morgen betrete ich bekanntes Terrain. Morgen gibt es ein Wiedersehen. Morgen werden sich die Wege kreuzen am Passo Gardena.
