Von der Bedeutung des Moments, der Zeit und der Gedanken

Gerädert stehe ich am nächsten Morgen auf. Was für eine Nacht. Schlaftrunken rühre ich vor meinem kleinen Zelt den Porridge zusammen und erhitze danach den Instant-Kaffee. Wenige Meter entfernt fährt ein „Camper“ die Markise seines Luxusliners heraus. Als die Befestigungsstangen stehen, rückt er zwei große eingetopfte Palmen daneben zurecht. Ich hingegen baue alles ab, verstaue sämtliche Ausrüstung in meinem Rucksack und laufe mit den zwei Mini-Töpfen und dem kaputten Göffel in Richtung Sanitärgebäude zum Abwasch. Wenig später schon verlasse ich Pesenthein und erreiche kurz vor 10.00 Uhr die Anlegestelle in Millstatt.

Peter Pan

Einige Radler warten bereits auf die Fähre. Dann legt sie an. Ihr Name: Peter Pan. Ich schließe die Augen und sehe die Figur meiner Kindheit vor mir: Ganz in grün gekleidet. Der Federhut ziert seinen Kopf.

Ich erinnere mich an Peter Pan als das Versprechen des Immermöglichen, Symbol für Freiheit, Fantasie, Unerschrockenheit. Das ewige Kind mit ungezähmtem Herz und einem Leben ohne Verpflichtungen, ohne Schmerz des Erwachsenwerdens. Keine Uhr fängt ihn ein. Die Zeitlosigkeit lässt ihn leicht sein und fliegen in sein fantastisches Neverland. Ein Abenteuerland – regellos, chaotisch, traumhaft – in das er mitreißt, wer ihm folgt. Doch in diesem Land ist nichts von Dauer. Alles verfliegt. Menschen gehen, um erwachsen zu werden. Nur er bleibt, wie er ist.

Die Freiheit, die ewige Kindheit gegen den Preis der Einsamkeit, Ferne und den Verlust dessen, was nur wachsen kann, wenn man es zulässt: emotionale Tiefe und Bindung. Eine Figur der Ambivalenz. Mich trägt er heute schaukelnd hinüber ans andere Ufer.

Die Fähre „Peter Pan“

„Du schaust aber auch aus, als hättest du einen weiten Weg vor dir,“ spricht mich einer der Radler an und reißt mich aus meinem Tagtraum. „Kann man so sagen,“ antworte ich und erzähle von meinem Weg. „Na, Mensch, das scheinen derzeit viele zu machen. Gestern waren wir auf der Mehrl-Hütte und dort erzählte die Wirtin, dass eine junge Frau, Journalistin, allein von Wien nach Nizza läuft.“ Ich feixe. „Naja, damit werde wohl ich gemeint gewesen sein.“ – „Ach nein, was für ein Zufall. Die Welt ist ein Dorf!“ lacht er und meine Geschichte scheint sich, wie ein Lauffeuer hinter mir auszubreiten.

Auf zum Goldeck

Vor mir liegt allerdings der Millstätter-See-Rücken. Über ihn laufe ich nach Spittal an der Drau. Im örtlichen Sportgeschäft habe ich kein Glück bei der Suche nach Ersatz für meinen zerbrochenen Göffel. In einem Einkaufszentrum lege ich dennoch eine kurze Pause ein. Bei Cappuccino und einem Tomate-Mozzarella-Sandwich beobachte ich das geschäftige Alltagstreiben der Menschen. Mit Einkaufstüten hasten sie zur Mittagszeit durch die Mall, das Smartphone am Ohr, mit den Gedanken irgendwo zwischen Coffee to Go und dem nächsten Meeting. Ich kenne solche Tage. Ich kenne das Gefühl. Aber mein aktueller Alltag ist so ganz anders und fühlt sich auch ganz anders an, als ihrer. Unwohlsein macht sich breit und so zieht es mich heraus aus Spittal über die Drau und hinauf zum Goldeck, dem Hausberg der Stadt in den Gailtaler Alpen.

Es ist ein zäher Aufstieg, zunächst auf Forststraßen und durch dichte Wälder. Doch ich atme tief auf, als ich das erste Mal einen Blick über das Drautal und den himmelblauen Millstätter See erhasche. Wieder einmal wird mir klar, wie schnell ich vorankomme, obwohl ich nur zu Fuß unterwegs bin. Meinen gestrigen Startpunkt am Erlacherhaus kann ich heute schon nur noch erahnen. Arnikabewachsene Almenwiesen, kleine Hütten, schmale Bächlein und blühende Alpenrosen säumen meinen Weg, der bald schon nur noch ein steiler Pfad ist. Kein Wanderer kommt mir entgegen oder geht den gleichen Weg wie ich. So kommt es auch, dass ich abermals der einzige Übernachtungsgast auf der Goldeckhütte bin.

Die Goldeckhütte

Herzlich werde ich von Hüttenwirt Andy und Verena empfangen. Zum Team gehören auch Sabina und Passang aus Nepal. Sofort werde ich in die Hüttengemeinschaft aufgenommen, darf mich in der Küche zu Verena und Andy setzen, um nicht allein im Gastraum Platz nehmen zu müssen. Das Team ist ganz Ohr als ich von meinem Vorhaben erzähle. Aber auch ich genieße es, einfach zuhören zu dürfen. Andy ist Wirt durch und durch. Neben der Goldeckhütte betreibt er auch die Waldschenke in Kötschach-Mauthen und die E.T. Compton Hütte, eine Bergkette südlich von hier. Zu gern würde ich über diese Hütte meinen Weg fortsetzen. Doch die Kraxelei über den Reißkofel ist mir allein zu gefährlich. „Du könntest über die Reisacher Jochalm gehen,“ schlägt Andy vor. „Im Netz ist es nicht zu finden, aber auf der Alm gibt es Übernachtungsplätze,“ setzt er fort. Was für ein wertvoller Hinweis, denke ich. Dennoch spiele ich mit dem Gedanken, übermorgen endlich meine erste Wildcampingnacht einzulegen. So ganz behagt mir der Gedanke noch nicht und so vertage ich die Entscheidung auf später. Noch bleibt mir ja etwas Zeit.

„Worauf habt ihr Lust heute Abend?“ fragt Andy und zählt die möglichen Gerichte, die er auftischen könnte, an der Hand ab. Verena und ich schauen uns an und gemeinsam mit Sabina und Passang fällt die Entscheidung auf Wildgulasch mit Rotkohl und Knödel. Dampfend stehen bald schon die Teller mit dem weihnachtlich anmutenden Essen vor uns. Es ist ein Gaumenschmaus.

Noch eine Weile sitzen wir danach zusammen und unterhalten uns, bis schließlich einer nach dem anderen zu Bett geht. Das Bettenlager ist hell und modern gestaltet. Bodentief ragt das Fenster am Fußende meines Lagerplatzes nach unten und gibt den Blick auf das gesamte Drautal und den Millstätter See frei. Die Lichter der Stadt flirren in der Abenddämmerung. Wolkenfetzen haben sich von der dichten Decke darüber gelöst und verfangen sich in den zurückliegenden Nockbergen. Noch eine Weile beobachte ich aus meinem Bett, wie der Schleier der Dunkelheit sich über das Tal legt, bevor ich zufrieden wegschlummere.

Die Sonne steht bereits hoch oben, als ich am nächsten Morgen die Augen öffne. Ein unangenehmes Ziehen durchfährt meinen rechten Fuß. Er ist geschwollen. Eiter tritt aus einer Einstichstelle genau über dem Knöchel auf der Innenseite. Ein Insektenstich als Erinnerung an die vergangene Campingnacht. Das hat mir gerade gefehlt, denke ich. Mit Panthenolsalbe und einem Pflaster versorge ich die Wunde, bevor ich humpelnd die Treppe hinuntersteige. Jeder Schritt wummert dumpf nach. Das kann ja was werden, denke ich, aber vielleicht sollte ich auch einfach nicht so viel darüber nachdenken.

Nepalesische Gebetsfahnen

Frühstück auf der Goldeckhütte

Bester Gailtaler Speck verströmt seinen Duft im Gastraum, als ich zum Frühstück Platz nehme. Auch mehrere Sorten Käse sowie Kaminwurz, Schmalz und Leberwurst sind liebevoll auf dem Holzbrettchen vor mir drapiert. Dazu Butter und ein hausgemachter Topfenaufstrich – die perfekte Basis für eine lange Wanderung, wie sie mir heute bevorsteht.

Auch Sabina und Passang setzen sich zum Frühstück zu mir. Passang hat einen Beutel mit nepalesischen Gebetsfahnen dabei. Sie sind ein Gastgeschenk und mittlerweile auf vielen Hütten in den Alpen zu finden. Ihr Ursprung liegt jedoch in der uralten buddhistischen Tradition. In fünf Farben strahlen die Fähnchen. Blau ist der Himmel. Weiß die Luft. Rot steht für das Feuer. Grün für Wasser. Gelb schimmert die Erde, so erklärt es mir Passang. Fünf Elemente, in deren Weite wir uns in den Bergen bewegen, wie an kaum einem anderen Ort, und die gleichsam für die Harmonie von Körper, Geist und Umwelt stehen.

Aufgedruckt sind Gebete und Segenswünsche. Der Wind soll sie in die Welt zu allen fühlenden Wesen tragen. Sie sind eine Erinnerung daran, dass das Glück nicht festgehalten, sondern freigelassen werden muss. „Einmal aufgehängt, dürfen die Fähnchen nicht einfach abgemacht werden,“ ergänzt Verena. Wie bunte Farbtupfer sollen sie stattdessen im Wind der Berge wehen bis sie verblassen und zerfallen, bis Segen und Glück sich in der Welt darunter verteilt haben – ein wunderschönes und zugleich beruhigendes Sinnbild.

Verena, Sabina und Passang verabschieden mich ebenso herzlich, wie sie mich gestern willkommen geheißen haben. „Schau unbedingt bei der Gusenalm vorbei und grüß den Otto von uns,“ gibt mir Verena noch mit. Doch zuerst möchte ich an diesem Morgen noch zwei Gipfel mitnehmen.

Als ich Gipfel Nummer eins, das Martenock erreiche, weht es mich beinah davon, so stark bläst der Wind über den Kamm. Ich genieße es, in diesem kleinen Sturm zu stehen. Zum ersten Mal sehe ich im Süden die Gipfel Italiens aufragen: den Jôf di Montasio, die Cima di Mezzo, die Creta di Rio Secco. Wow, einfach nur wow. Ich drehe mich herum, blicke gen Norden über das Drau-Tal und die zurückliegenden Berge, wie das Rosennock, den Eisenhut oder das Klomnock. Entlang des Gratweges setze ich meinen Weg auf das benachbarte Goldeck fort. Idyllisch ist es hier jedoch nicht. Das Gipfelkreuz wird von einer rot-weißen Antenne um ein Vielfaches überragt. Mehrere Liftstationen enden wenige Höhenmeter darunter. Zügig gehe ich weiter Richtung Südwesten durch lichte Lärchen- und Fichtenwälder.

Auf der Gusenalm

Schließlich trete ich aus den Bäumen heraus und erkenne bereits die Gusenalm. Als ich näher komme, öffnet sich ein Fenster im oberen Stockwerk der Holzhütte. „Grüß dich! Sag, magst was trinken?,“ ruft eine feste aber freundliche Stimme herunter. Ich blicke auf und sehe einen Mann im mittleren Alter, graues Haar und Bart, gut in Form, der Rücken kerzengerade. Das muss wohl Otto sein, denke ich. „Ja, gern!“ rufe ich breit lächelnd zurück. Ich betrete die Hütte. Sie ist gemütlich eingerichtet. In der kleinen Küche dudelt das Radio. Zahlreiche Familienfotos stehen und hängen in der Niesche rund um den Esstisch. „Setz dich gern. Was magst du trinken?“ fragt Otto. „Einen Almdudler, wenn du einen hast,“ antworte ich. „Ja, natürlich.“ Kurz verlässt Otto den Raum und kommt mit einem Almdudler für mich und einer Frucade für sich wieder zurück.

Die Gusenalm

Als wir schließlich beide mit unserem Getränk am Tisch sitzen, fragt mich Otto, woher ich komme und wohin ich unterwegs bin. Ich erzähle meine Geschichte. Er lächelt. „Weißt du, ich habe dich von Weitem gesehen und habe gleich gedacht, das ist eine zielstrebige junge Frau. Du bist straight, strukturiert, weißt wohin du willst. Da war gleich dieses Funkeln in deinen Augen, ein entspanntes, offenes Strahlen. Das gefällt mir,“ fährt er fort. Ja, denke ich. Seitdem ich den Plan für diese Tour habe, bin ich klar. Seitdem ich laufe, bin ich mit mir im Reinen und von Tag zu Tag ein bisschen mutiger.

Die Kostbarkeit des Moments und der Wert der Zeit

„So ein Funkeln, das ist wichtig,“ meint Otto. 22 Jahre lang habe er Dienst getan, unter anderem als Chauffeur österreichischer Politiker. „Jetzt arbeite ich,“ fügt er hinzu. „Weißt du, was der Unterschied ist zwischen Dienst tun und arbeiten?“ Ratlos und neugierig zugleich schüttele ich den Kopf. „Beim Dienst bist du physisch anwesend, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort. Du tust, was dir aufgetragen ist. Wenn du arbeitest, erreicht es dein Herz. Dann machst du, was du machst aus dir heraus und weil es dich gleichzeitig erfüllt.“ Es ist ein Satz der in mir nachklingt und mich nachdenklich werden lässt.

Drei wichtige Ressourcen gibt es im Leben eines Menschen: Energie, Geld, aber vor allem Zeit. Wie wichtig die Zeit ist, sei Otto erst klar geworden, als sein bester Freund starb, keine 50 Jahre alt, plötzlich nach kurzer schwerer Krankheit. „Ich wusste, dass er sterben würde, aber realisiert habe ich es erst, als ich am Bett neben ihm saß und der letzte Atemzug seinen Körper verlassen hat,“ erzählt er.

Der Senner der Gusenalm: Otto Schatzmayr

„Da habe ich begriffen, wie wichtig Zeit ist. Kein Moment kommt wieder. Auch dieser Moment.“ Mit den geballten Knöcheln der Hand klopft er im Rhythmus seiner Worte auf den Tisch. „Dieser Moment, dieses tiefe und schöne Gespräch kommt nicht wieder. Der Moment ist in der nächsten Sekunde vorbei. So!“ fährt er fort und schnipst mit den Fingern in der Luft den Hauch der Sekunde davon. Ja, denke ich. Wie oft, sind wir im morgen oder im gestern, statt im hier und jetzt? Und wie oft stellen wir uns eigentlich diese eine Frage: Wofür gebe ich meine wichtigste Ressource, die Zeit, aus? Füllt es mich? Lebe ich? Oder existiere ich bloß?

Offen für ein Echo

Die tragische Erfahrung von Verlust war einer der Anstoßpunkte für Otto seinen Dienst zu quittieren und stattdessen zu arbeiten – als Senner auf der Gusenalm. „Weißt du, ich kam hier oben an, aber bis der Geist nachzog, hat es gedauert,“ erklärt er. „Nach zwei Monaten habe ich zum ersten Mal mein Echo zwischen den Bergwänden gehört, wenn ich gerufen habe.“ Die ganze Zeit war es freilich gemäß den Naturgesetzen da. Doch die Sinne hatten sich erst nach einer langen Zeit der Stille in den Bergen so geöffnet und gereinigt, dass Otto sein Echo bewusst wahrnehmen konnte.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als er mir all das erzählt. Heute ist Otto selig mit seinen „Mädels“, wie er die Kühe auf der Alm nennt. Jede habe ihren eigenen Charakter, ihre eigene Persönlichkeit. Nichts mache ihn glücklicher, als zu sehen, wenn am Ende eines Sommers ein zuvor scheues Tier, Vertrauen zu ihm aufgebaut hat, sich anfassen und von ihm führen lässt.

Kraft der Gedanken

Es ist ein ruhiges, kleines Reich, das sich Otto hier oben geschaffen hat. Ein Reich, das er sich von niemandem zerstören lässt – vor allem nicht von Gästen. „Viele suchen die Ruhe, aber tragen die Unruhe des Tals in sich. Die brauch ich hier nicht.“ Was er hingegen schon brauche, sei eine Aushilfe, denn die Arbeit auf der Alm ließe sich allein nur schwer bewältigen. „Aber auch da muss die Chemie passen. Ich lasse mir meine Seelenruhe nicht kaputt machen.“ Bis dahin bleibe er lieber allein und denke fest daran, dass die richtige Person schon kommen wird.

„Denn eines, sage ich dir, gilt immer: Achte auf deine Gedanken, denn sie werden deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden deine Taten. Achte auf deine Taten, denn sie werden deine Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.“

Trail Magic

Tief brennen sich Ottos Worte und unser Gespräch in mein Gedächtnis ein. Es sind diese Momente, weswegen ich losgegangen bin. Momente, die man so wohl nur erlebt, wenn man als Wanderin allein reist. Moments of Trail Magic. „Behalte dir dein Strahlen und dein Funkeln,“ gibt mir Otto mit auf den Weg. „Weißt du, die Wenigsten werden verstehen, was du auf diesem Weg erlebst. Kaum einer wird nachvollziehen können, welche Eindrücke du sammelst und welche Wandlung du durchlebst. Behalte es für dich. Teile es nur mit jenen, die offen sind, sich ganz darauf einzulassen. Die Reaktion aller anderen wird dir deine Erinnerung, dein Erlebnis nur zerstören.“

Über eine Stunde fesseln mich Ottos Erzählungen. Nun aber ist es Zeit aufzubrechen. Ich schultere meinen Rucksack, greife zu den Wanderstöcken und steige die kleine Holztreppe hinab. Als ich mich schon mehrere hundert Meter von der Almhütte entfernt habe, schallt es durch das Tal: „Hallo Echo! Auf Wiedersehen!… Jetzt Du!“ Ich drehe mich um. Otto winkt von der Terrasse der Hütte. Ich antworte, zwar laut, aber dennoch zögerlich. „Hallo Echo!“ – „Das kannst du besser,“ ruft Otto zurück. Tief atme ich ein und spüre förmlich wie meine Lungenflügel die Rippenbogen berühren. In einem lauten und entschlossenen Schrei verlässt die Luft meinen Körper. „Ahhh! Hallo Echo!!!“ Einmal, zweimal, dreimal – viele Male hallt es von den steil aufragenden steinernen Flanken der Berge zurück. Mit einem Lächeln auf den Lippen nickt mir Otto ein letztes Mal zu. Dann drehe ich mich um und folge dem Weg Richtung Süden.

Als ich den Stoisa-Sattel überquere, kann ich das erste Mal einen Blick auf den Weißensee erhaschen. Azurblau liegt er eingebettet zwischen den Bergen der Gailtaler Alpen. Die Aussicht gibt mir Kraft, während ich mich abermals über eine Forststraße in die Hitze des Tals schleppe. Schließlich erreiche ich Techendorf und decke mich im örtlichen Supermarkt mit neuem Proviant ein.

Heimatschwingungen

Mein heutiges Domizil ist der Campingplatz. An der Rezeption warte ich geduldig bis ich an der Reihe bin. Währenddessen vernehme ich Heimatklänge. In feinstem Sächsisch erklärt der Rezeptionist dem Gast vor mir, wo er den Stromanschluss seines Wohnwagens reparieren lassen kann. Ein wenig freue ich mich über den vertrauten Zungenschlag. Dann bin ich an der Reihe. „Ich würde gern für eine Nacht bleiben.“ – „Bloß eine Nacht? Wie groß ist das Fahrzeug?“ fragt der Rezeptionist. „Kein Auto. Ich bin zu Fuß auf einer Alpenüberquerung.“ – „Oh, wie lange dauert das denn?“ – „So ca. dreieinhalb Monate, wenn ich es schaffen sollte,“ antworte ich. „Aha. Na das muss man sich auch leisten können. Da könnte ich mir einen neuen Job suchen, wenn ich meinem Chef sage, ich bin dreieinhalb Monate weg,“ setzt er mürrisch in breitem Sächsisch fort. Die Schwingungen der latenten Unzufriedenheit liegen direkt in der Luft. Jetzt, weiß ich auch wieder, was ich an zu Hause nicht vermisse.

Zügig verlasse ich die Rezeption in Richtung See und genieße den Nachmittag mit einem Schokoladenpudding in der Hand und den Füßen im Wasser.

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