Mein Traum hat alleine zu laufen begonnen

Da steh ich nun 7.50 Uhr am Stephansplatz in Wien an diesem 23.05.25. Es geht ein leichter Wind. Bliebe ich hier stehen, würde mir kalt. Aber ich zieh durch, habe eine Verabredung bevor es wirklich losgeht. Mein erstes Ziel an diesem Tag ist das Café „Aida“, ein Kaffeehaustraum ganz in rosa – von der Markise bis zum Stuhl.

Vor dem Café wartet sie schon – Maria. Ich kenne sie seit ich fünf Jahre alt bin. Seit 25 Jahren fahren meine Eltern schon in die Wachau in Niederösterreich – jedes Jahr mindestens ein Mal für eine Woche. Als Kind war die Wachau deshalb so etwas wie meine zweite Heimat. In Wien bin ich häufiger gewesen als in Berlin, der Hauptstadt meines Heimatlandes. Freundschaften entstanden in der Wachau, unter anderem auch mit Maria, in deren Ferienwohnung meine Eltern bis heute noch jedes Jahr ihren Urlaub verbringen.

Herzliche Verabschiedung

Extra wegen mir ist sie heute zeitig aufgestanden, um mit dem Zug nach Wien zu fahren, mich auf ein Frühstück einzuladen und auf meine Reise zu verabschieden. Freude macht sich breit, im Großstadtdschungel ein bekanntes Gesicht zu sehen. Gemeinsam gehen wir ins Café. Nur wenige Minuten später gesellt sich auch Regina dazu, die Enkelin von Maria, die in Wien studiert. Eine Etagere mit Käse, Wurst, Marmelade, Honig und Müsli türmt sich vor mir auf. Ich bin so aufgeregt, dass ich an diesem Morgen nur ein Kornspitz herunterbekomme.

Regina fragt mich über meinen Rucksackinhalt aus. „Was hast da alles drin?“ – „Naja, neben der Kleidung halt Zelt, Isomatte, Schlafsack und Kocher. Außerdem viel zu viel Proviant,“ antworte ich. Regina staunt, was alles in den scheinbar kleinen Rucksack hineinpasst. Wir unterhalten uns über die ersten Etappen. Das Höllensteinhaus steht auf dem Plan. Morgen geht es zum Peilsteinhaus. „Ah das kenn ich. Da war ich mal mit der Schule,“ erzählt sie. Wie cool, denke ich: Schulauslug auf eine Hütte. Das hätte mir auch gefallen.

Maria, Regina und ich essen gemeinsam das üppige Frühstück, sprechen über die ersten Etappen und das Reisen. Eigentlich ist gerade so eine schöne Stimmung, dass ich gar nicht aufstehen mag. Lieber würde ich noch ein wenig sitzen bleiben, ist es doch auch schon ein Jahr her, dass ich Maria zuletzt gesehen habe. Aber es wird Zeit. Vor mir liegt eine 25 km Etappe und 17.30 Uhr wird auf meiner ersten Hütte schon Küchenschluss sein. Für unterwegs schmiere ich mir noch ein Kornspitz, das in meinem Rucksack verschwindet. Ich schultere ihn. Uff, ist der schwer.

Kurz nach 9.00 Uhr treten wir aus dem Café auf den Stephansplatz. Die Stadt ist wach, erste Touristengruppen schieben sich am Stephansdom vorbei. „Jetzt müssen wir aber noch ein Startvideo machen, wie du losläufst,“ mein Regina. Sie greift meine Kamera, das rote Lämpchen blinkt. Maria nimmt mich in die Arme. Bevor wir uns getroffen haben, hat sie im Stephansdom für mich und meine Reise um Segen gebeten. Nun also ein letzter fester Druck. Maria wünscht mir eine gute Reise und vor allem, dass ich gesund wiederkomme. In meiner Magengegend gluckst es. Ich drehe mich um und laufe los.

Kindheitserinnerungen in bekannten Straßen

Kurz sprinte ich zurück, hole meine Kamera von Regina und umarme auch sie noch kurz. Jetzt aber geht es wirklich los. Noch ein Blick zurück und die beiden entfernen sich in eine andere Richtung. Mich hingegen führt der Weg zunächst durch die Hofburg mit dem Sisi Museum und der Spanischen Hofreitschule und einmal quer durchs Museumsquartier. Ich kann nicht anders – an dem kleinen dicken Bronzeelefant muss ich einfach ein Foto machen. Unzählige Male habe ich als Kind darauf gesessen, wenn ich mit meinen Eltern in Wien war. Aus jedem Jahr gibt es ein Foto, das mein Papa geschossen hat. Jetzt aber drücke ich einem freundlichen Japaner das Handy in die Hand und Sekunden später geht es weiter.

In meinen Ohren klingen die ersten Takte einer ganz neuen Playlist. Lisa, meine beste Freundin, hat sie extra für meine Alpendurchquerung zusammengestellt. Und so singt Sara Bareilles jetzt lautstark: „I wanna see you be brave,“ während ich weiter durch die Straßen streife, mit denen ich viele schöne Erlebnisse verbinde.

Die Mariahilfer Straße führt mich immer weiter heraus aus der Stadt. In meinem Bauch fliegen Schmetterlinge. Alles ist durcheinander. Eine wilde Mischung aus Kindheitserinnerungen, Vorfreude auf diese Reise, Nervosität und einer gehörigen Portion Staunen vor meiner eigenen Courage, dieses Wahnsinnsprojekt anzugehen, macht sich breit, treibt mir das Wasser in die Augen.

Als ich einen Park durchquere stoppt ein Jogger und geht drei Schritte auf meine Höhe zurück. Er pult sich die Kopfhörer aus den Ohren, nimmt die Hände vor dem Mund zusammen und spricht mich an. „Sorry, du siehst aus als hättest du was Größeres vor. Wie viel Liter hat dein Rucksack? Ist da ein Zelt drin? Eine Isomatte? Ich muss nächste Woche nach Kanada für vier Wochen und brauch dringend noch einen Rucksack.“ Ich bleibe stehen und erkläre ihm meine Ausrüstung. Welches Zelt, welcher Rucksack, welches GPS. „Das hilft mir,“ meint er während er sich das Tragesystem noch einmal genauer anschaut. „Gestern wollten sie mir schon einen 100 Liter-Rucksack im Geschäft verkaufen. Aber wenn ich das so sehe, reichen für mich auch 60 Liter.“ Nach einem kurzen Gespräch über sein und mein Fernziel, wünscht er mir eine gute Reise und für mich geht es weiter.

Durch Schloss Schönbrunn laufe ich auf den Schönbrunner Berg und genieße die fantastische Aussicht auf Wien. Allerhand Touristen sind unterwegs. Die vielen Menschen stressen mich und so zieht es mich immer weiter aus der Stadt. In Wellen übermannen mich immer wieder die Emotionen. Durch Perchtoldsdorf verlasse ich schließlich die Stadt in Richtung Wiener Wald.

Raus aus der Stadt

Auf einer Lichtung bin ich schließlich allein, kein Haus, keine Straße, kein Mensch. Nur Vogelzwitschern. Ich atme tief durch und setze mich auf einen Stein. Gestern habe ich beim Schnitzelwirt noch ein Wiener Schnitzel gehabt, aber wie immer nicht geschafft. Die Reste vertilge ich nun und genieße die Ruhe. Danach laufe ich weiter und die ersten Höhenmeter hinauf. Vor mir springt ein Reh aus dem Gebüsch über den Weg. Lächelnd freue ich mich, endlich aus der Stadt heraus zu sein. Es ist komisch allein an all den bekannten Ecken vorbeizugehen, die man sonst nur mit den Liebsten gemeinsam besucht hat. Hier hingegen war ich noch nie. Der Wiener Wald ist quasi „neutraler“ Boden und das ist gerade gut so.

Wiener Schnitzel zum Mittag

Nur ein älteres Paar kommt mir entgegen, später ein Radfahrer. Sonst bin ich auf dem gesamten Weg zum Höllensteinhaus allein. Ich nehme die Beine in die Hand und bin 17.00 Uhr an der Hütte. In Flipflops steht Hüttenwirt Günther schon am Eingang. „Du schaust aus, als hättest was Größeres vor,“ meint er. „Kann man so sagen,“ gebe ich zurück. „Wo geht es denn hin?“ Puh, es fühlt sich ganz komisch an, diese Frage ehrlich zu beantworten. Immerhin ist das erst mein erster Tag. Umso entschlossener antworte ich: „Nizza“. „Ah das ist auch ein Traum von mir. Hier hängt schon einmal die Karte,“ sagt er mit einem Wink auf die Alpenkarte an der Wand. Hunger habe ich kaum. Zu groß ist noch der Knoten im Magen und so begnüge ich mich heute mit einer Nudelsuppe und Radler.

Außer mir ist nur ein älteres Paar auf der Hütte. Von der Terrasse aus sieht man über die Stadt ins Tal. Nach dem Essen sitze ich mit den beiden Hüttenwirten und zwei Einheimischen am Tisch. Auch hier ist mein Projekt Thema. Alle beugen sich über die nächsten geplanten Etappen. Sie werden für gut befunden. Oliver, einer der beiden Hüttenwirte, ist ganz aus dem Häuschen. „Das ist Wahnsinn. Du bist echt mein Highlight heute! So super, dass du das machst.“ Ich bremse: „Na, erst einmal sehen wie weit ich komme.“ Bei Zeiten verabschiede ich mich ins Bett. Das gesamte Matratzenlager habe ich für mich allein. Ein Luxus – ganz ohne Schnarcher.

Pläne umsetzen

Am nächsten Morgen setze ich mich zu dem älteren Pärchen an den Tisch. Es stellt sich heraus, dass sie aus Oldenburg kommen und auch Weitwandern – diesmal von Passau nach Wien. Als sie vor sieben Jahren in Rente gingen, hatten sie sich einige Touren vorgenommen und Stück für Stück „abgelaufen“ – unter anderem auch München – Venedig. Aber auch Radreisen haben sie seither einige unternommen. „Alle großen Pläne haben wir umgesetzt. Jetzt kommt die Zugabe,“ erzählen sie zufrieden. Wir tauschen uns über unsere Erfahrungen aus und sind sofort per Du.

Ich freue mich über diese erste nette Begegnung und starte euphorisch auf meine zweite Etappe. Heute Morgen habe ich auch die Hütten für Etappe vier und fünf reserviert. Hüttenwirt Günther gibt mir noch einen Abkürzungstipp, um schnell wieder auf meinen Weg zu kommen und ich stiefel los. Die Abkürzung führt mitten durch den Busch. Als ich auf der anderen Seite wieder auf den Weg hüpfe, kommt Hüttenwirt Oliver im Auto angefahren. Er hält neben mir. „Hier, falls du mal Hilfe brauchst in den nächsten Tagen, ich bin in der Gegend um Semmering zu Haus, ruf gern an, wenn etwas ist,“ meint er und schreibt mir seine Telefonnummer auf. Ich bin happy. So viel Hilfsbereitschaft gleich zu Beginn.

Pläne ändern sich

Die zweite Etappe führt mich heute immer weiter durch den Wiener Wald. Eine halbe Stunde bin ich unterwegs, als mich der Wirt der Edelweisshütte am Schneeberg anruft. Sie werden am Montag nicht öffnen, weil Sturmböen am Schneeberg angesagt seien. Zack, steht die erste Planänderung an. Aber darum will ich mich später kümmern. Heute Abend auf der Hütte ist noch genug Zeit, denke ich.

Wald und hügelige Landschaften sind meine Begleiter auf der zweiten Etappe.

Bei bestem Sonnenwetter folge ich dem Nordalpenweg 01 durch Sittendorf und Heiligenkreuz. Eine Radfahrerin fragt, ob ich nach Mariazell pilgere, denn hier verläuft auch der entsprechende Pilgerweg. Aber ich verneine.

Am Nachmittag erreiche ich das Peilsteinhaus und will mich um eine Alternative zur Edelweisshütte kümmern. Problem: Es gibt kein Netz. Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl herum. Es ist die übernächste Station und wohl schlechtes Wetter angesagt. Noch fehlt mir eine gewisse Grundgelassenheit, um hier entspannt zu bleiben. Die Hütte füllt sich mit Kletterern, Radfahrern und wandernden Familien. Nach dem Essen versuche ich im Gastraum erneut eine Verbindung zu bekommen, um mein Unterkunftsproblem zu lösen. Harsch erinnert mich der Koch an das Handyverbot im Gastraum.

Überflüssig – sitze ich doch allein an meinem Tisch und bin nicht aus Spaß am Telefon. Für mich ist das die Aufforderung zu gehen und das mach ich dann auch – zum Glück, denn im Zimmer finde ich eine Ecke mit Empfang und buche mir ein Zimmer in einem Hotel in Losenheim unterhalb der Edelweisshütte. Deutlich entspannter sinke ich in mein Bett. Gut schlafen werde ich aber nicht.

Allein im Wiener Wald

Am nächsten Morgen sitze ich nicht allein beim Frühstück. Eine Gruppe Mountainbiker gesellt sich zu mir. Sie trainieren für eine Transalp mit dem Rad im Sommer. Selbst zusammengestellt haben sie die Tour und wollen schauen, ob sich die steilen Offroad-Pässe überhaupt mit dem Rad werden fahren lassen.

Bärlauch, wohin das Auge reicht.

Bei bestem Sonnenschein breche ich auf immer weiter durch den Wiener Wald in Richtung Pernitz. Auf der ganzen Strecke treffe ich keinen einzigen Wanderer. Überall duftet es nach Bärlauch, der hier in rauen Mengen wächst. Mit Musik und Podcast auf einem Ohr lässt es sich gut gehen. Trotzdem ist es für mich noch immer gewöhnungsbedürftig: allein aufstehen, allein essen, allein mehrere Tage wandern.

Regen in Sicht

Die Wolkendecke wird immer dichter, je näher ich Pernitz komme. Mein heutiges Ziel ist ein Campingplatz in Neusidl direkt daneben. Als ich ankomme wartet schon ein älteres Paar in seinem Wohnmobil auf den Campingplatzbetreiber. Die beiden kommen aus Frankreich. Nach einer Weile schlägt der Platzwart auf. Allerdings spricht er weder Französisch noch Englisch und so werde ich kurzerhand zur Übersetzerin zwischen ihm und den französischen Gästen.

Als auch ich „eingecheckt“ habe, baue ich rasch mein Zelt auf. Genau 15 Sekunden nachdem ich das Überzelt aufgezogen habe, beginnt es zu regnen. Timing. Zwischen zwei Schauern koche ich mein Abendessen. Ein Blick auf das Regenradar verheißt nichts Gutes. Es soll die ganze Nacht regnen bis morgen früh. Unruhig schlafe ich ein. Morgen will ich dem ersten großen Berg entgegengehen – hoffentlich nicht allzu durchgeweicht.

Just in time. 15 Sekunden vor dem Regen habe ich das Zelt übergeworfen.

2 Kommentare zu „Mein Traum hat alleine zu laufen begonnen

  1. Moin
    Weiterhin viel Spaß und nicht darüber nachdenken was in ein paar Tagen (Wochen oder Jahren ist) bleibe im hier und jetzt, es fügt sich oder es findet sich immer ein Weg.
    Kann man eigentlich deine gpx Tracks irgendwo finden und nachvollziehen?
    Ist immer wieder schön, wenn man in der Gegend ist und tatsächlich gelaufene Strecken findet, anstatt der Standard Routen, die allgemein veröffentlicht sind.
    Ciao
    Claus

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