Bergmenschen in den Niederen Tauern

Der Tag nach der ersten wirklichen Monsteretappe meiner Reise beginnt früh. Lisa muss den Bus erwischen, der sie zurück zu ihrem Auto bringt. Um 6.20 Uhr sitzen wir beim Frühstück – noch ziemlich verschlafen und zu müde, um viel zu reden. Dann muss auch schon alles ganz schnell gehen. 7.00 Uhr fährt der Bus. Schnell – ist an diesem Morgen aber schwierig, denn laufen fällt Lisa schwer. Wir umarmen uns noch einmal. Ich bin überglücklich, dass eine meiner besten Freundinnen die Anreise und die Strapazen der gestrigen Etappe auf sich genommen hat und mir für zwei Etappen gefolgt ist. „Vielen Dank!“ – „Ich Danke dir. Das war eine Erfahrung,“ sagt sie und schon fährt der Bus vor und wenige Sekunden später seh ich nur noch dessen Rücklichter.

Wieder allein

Jetzt bin ich wieder allein. Diesmal aber ist es schon weniger ungewohnt, weniger unbehaglich. Mit einem Lächeln im Gesicht laufe ich zurück zu der kleinen Pension und setze entspannt mein Frühstück fort. Vor mir liegt keine besonders herausfordernde Etappe. Sechs Stunden reine Gehzeit werden angegeben bis zu dem kleinen Dörfchen Sankt Nikolai im Sölktal. Bei bestem Sonnenschein laufe ich los. Die zwei Etappen gemeinsam mit Lisa waren toll. Gemeinsam ein Stück des Weges zu gehen, durch Regen, Kälte, Sonne und auch körperlichen Schmerz. Das schweißt zusammen und schafft gemeinsame Erinnerungen.

Gleichzeitig hat mir Lisas gequältes Gesicht am zweiten Tag einmal mehr gezeigt, wie schwierig es ist, jemanden zu finden, der den ganzen Weg mit mir gehen würde. Oft habe ich das im Vorfeld bedauert, habe anfangs sogar daran gezweifelt, diese Wanderung allein zu beginnen, hatte lange gehofft, dass mich bestenfalls Woche um Woche jemand anderes begleiten würde. Doch ganz langsam macht sich auch ein Gefühl der Leichtigkeit breit so allein. Tempo, Route, Zeit, Gedanken, Gefühle – mein Weg, meine Entscheidung – theoretisch.

Unter Druck

Zügig laufe ich den Berg hinauf. Als ich am Pass ankomme, eröffnet sich mir ein Panorama auf die noch immer leicht gezuckerten Zweitausender der Sölktaler Alpen mit dem Großen Knallstein und der Seekarlspitze. Nach einer kurzen Rast geht es nur noch bergab. Ich folge dem Mörsbach Richtung Tal. Seitdem ich losgelaufen bin, schaue ich immer wieder auf die Uhr und gleiche meine Gehzeit mit der angegebenen Wegzeit ab.

Bin ich schnell genug? Wie viel Strecke habe ich schon geschafft? Wann werde ich ungefähr da sein?

Mein Ziel ist es meist, vor 17.00 Uhr anzukommen. Eigentlich ist es völlig blödsinnig, mir diese Fragen zu stellen. Denn eigentlich möchte ich ja entschleunigen, ohne Druck unterwegs sein. Noch gelingt mir das nicht recht und so zwinge ich mich regelrecht, an einer ruhigen Stelle des Bachs Rast einzulegen. Sie ist tief genug, um baden zu gehen. Doch als ich meinen schweren Rucksack abschultere, macht sich Unruhe in mir breit. Ich stelle fest, dass es hier keinen Mobilfunkempfang gibt. Über mein GPS schreibe ich eine kurze Nachricht via Satellit an Sebastian, damit sich niemand sorgt, wenn sich mein Trackingpunkt länger nicht bewegt und ich telefonisch nicht erreichbar bin.

Hallo Alpenrosen!

Jetzt erst stellt sich innere Ruhe ein. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und Wanderklamotten, taste mich vorsichtig in das eisige Bachwasser hinein. Als ich mit beiden Füßen und kniehoch in der Strömung stehe, tauche ich unter. Wie tausende kleine Nadeln sticht die Kälte überall an meinem Körper. Doch ich genieße den Moment. Mit dem Kopf wieder über der Wasseroberfläche ziehe ich die Luft tief in meine Lungen und springe aus dem Wasser. Die riesigen Steine am Ufer sind von der Sonne ganz aufgeheizt. Wohlige Wärme durchströmt mich, als ich mich darauf setze. Einen Moment möchte ich die Augen einfach geschlossen halten, an nichts denken. Konzentration. Auf das Rauschen des Bachs. Auf die Sonne in meinem Gesicht. Auf das Pumpen in meiner Brust.

Stopp. Ich muss weiter. So lang kann ich hier nicht sitzen. Noch bin ich nicht da für heute,

Mein Kopf schreit. Wie harte Arbeit fühlt es sich an. Vom Zustand der Entspannung bin ich noch weit entfernt. Werde ich ihn überhaupt erreichen? Ich weiß es nicht. Nach zehn Minuten gebe ich den Versuch auf, mahne mich aber, sanft mit mir selbst zu sein. Immerhin habe ich zum ersten Mal seit zweieinhalb Wochen, seitdem ich losgelaufen bin, bewusst eine weitere Pause an einer schönen Stelle eingelegt, um baden zu gehen. Bisher habe ich mir das noch nicht erlaubt. Ein erster kleiner Fortschritt also.

Schließlich setze ich meinen Weg ins Tal fort. Dort folge ich noch für wenige Kilometer der asphaltierten Hauptstraße bis ich Sankt Nikolai im Sölktal erreiche. In dem kleinen wohlsortierten Tante-Emma-Laden direkt neben dem Hotel decke ich mich mit allerhand Essen ein und verbringe den Rest des Tages damit, meine Kalorienreserven wieder aufzufüllen und auf dem Balkon noch etwas Sonne zu tanken.

Stilles Sölktal

Nach einem guten Frühstück folge ich am nächsten Morgen dem Zentralalpenweg hinein in die Schladminger Tauern. Es ist ein zunächst gemütlich und dann steiler ansteigender Weg bis hinauf zur Hohenseealm. Mir zu Füßen liegt der gleichnamige See. Keinen einzigen Menschen habe ich auf dem Weg hierher getroffen. Die Stille der Berge gehört mir allein. Mittagspause mit Brot, Käse und Trauben. Dann geht es weiter den Berg hinauf entlang sprudelnder Bäche und vorbei an Alpenrosen, die langsam ihre rosafarbenen Blütenspitzen öffnen. Dann stehe ich vor mehreren dunkelgrün lackierten Eisenleitern, die beinah vertikal nach oben über den Felsen führen. Sofort erkenne ich das Motiv wieder. Seit vier Jahren habe ich diese Leitern vor Augen, immer dann, wenn ich mit den Händen über den Buchdeckel streife – den Buchdeckel von Hans Thurners Reisebericht „2.000km Freiheit – Zu Fuß von Wien nach Nizza“.

Mit einem Lächeln im Gesicht verstaue ich die Stöcke und straffe den Rucksack auf meinem Rücken. Dann beginne ich die kleine, unschwere Kraxelei. Wenig später erwartet mich das erste Schneefeld überhaupt auf dieser Tour. Ich greife mit den Händen in den verharschten Schnee – ein flüchtiger Gruß des vergangen Winters. Immer wieder blicke ich zurück auf den blauen Schimpelsee, während ich zur gleichnamigen Scharte aufsteige. Oben angekommen kann ich in der Ferne noch den Hochrettelstein erkennen, den Lisa und ich noch vor zwei Tagen erklommen haben. Verrückt, denke ich einmal mehr. Auf der Scharte stehend breite ich die Arme aus und bringe einen kleinen Freudenschrei hervor.

Bergmenschen

Umso erschöpfender folgt der Abstieg zur Rudolf-Schober-Hütte erst über Geröll, dann durch Zirbenwälder. In der Hütte angekommen werde ich freundlich von Renate begrüßt. Sie erzählt, dass sie eigentlich aus der Region nahe der Karnischen Alpen stammt. In circa zwei Wochen werde ich dort ankommen – ein weiterer großer Meilenstein. Renate ist ein Bergmensch durch und durch – eine taffe Frau. In jungen Jahren hat sie Bergtouren in Nepal unternommen – nicht ganz typisch in einer Zeit, in der die Bergwelt noch stärker als heute männlich dominiert war. So wundert es nicht, dass sie oftmals die einzige Frau in den Expeditionsgruppen war. Für mich sind Frauen wie Renate eine Quelle der Inspiration. Frauen, die sich schon früh getraut haben, gegen den Strom zu schwimmen, mit Konventionen zu brechen, einfach ihren Weg gehen.

Die Schober-Hütte ist eine urige kleine Alpenvereinshütte und ich an diesem Tag der einzige Übernachtungsgast neben einem Pärchen aus Kufstein, dass einige Tage hier verbringt, um auf der Hütte auszuhelfen. Renate fragt mich, ob ich am Abend Lust habe, auf ein Glas Wein mit dem Hüttenteam zusammenzusitzen. „Na klar, das wäre toll!“ Obwohl ich mich an den Zustand des Alleinseins mittlerweile gewöhnt habe, freue ich mich immer über Gesellschaft – besonders dann, wenn ich in die Gemeinschaft meiner Gastgeber eingeladen werde und sei es nur für einen Abend.

Als ich mit einem Radler in der Hand auf der Terrasse die letzten Sonnenstrahlen genieße, kommt ein großer und kräftig gebauter Mann herausgetreten. Die Brille auf seiner Nase wirkt fast verloren. Er rückt sie zurecht und geht mit einem Lächeln im Gesicht die Treppen herab. „Grüß Gott!“ Ruft er mir zu. „Ich bin der Toni – also eigentlich Anton.“ Wir kommen ins Gespräch. Viele Jahre schon ist Toni Hüttenwart und seit vergangenem Jahr auch Hüttenwirt auf der Rudolf-Schober-Hütte. Der Unterschied? Während der Hüttenwart vor allem für die Instandhaltung der Hütte zuständig ist, liegt die Bewirtung der Gäste in den Händen des Hüttenwirts.

Wenn ich die Augen schließen und mir einen Hüttenwirt vorstellen sollte, würde Tonis Erscheinung und Art wahrscheinlich sehr nah an das Bild in meinem Kopf heranreichen – gemütlich, ursteierisch, graues dichtes Haar, ein Vollbart umrahmt sein Gesicht. Als wir später mit dem Hüttenteam bestehend aus Renate und Sabine sowie dem Kufsteiner Pärchen zusammensitzen, beginnt Toni im tiefsten Dialekt Gedichte vorzutragen. Geschlagene acht Minuten dauert eines namens „Zirgelkistel“. Es handelt von dem vergeblichen Versuch einiger Maurer, eine vollbeladene Ziegelkiste die Baustelle heraufzuziehen. Immer wieder stürzt besagte Kiste jedoch nach unten. Mit seinen starken Händen zeichnet Toni Bilder in die Luft.

Während ich mich richtig anstrengen muss, um den harten Dialekt zu verstehen, können sich alle anderen am Tisch kaum halten vor Lachen. Zu jedem Gedicht wird ein weiteres Glas Zweigelt, Veltliner oder Weißburgunder eingeschenkt. Die weinselige Stimmung macht fast vergessen, dass es einen ernsten Grund für Tonis unerschöpfliches Poesierepertoire gibt. Nach einem Schlaganfall musste er fast alles neu erlernen. Sprechen, Schreiben, Gehen. Nichts ging mehr. Um den Kopf zu trainieren, lernte er unzählige Gedichte auswendig. Die Sprache kam wieder, die Lyrik blieb als unterhaltsame Erinnerung an den Kampf zurück in ein selbstbestimmtes Leben.

Vom Führerstand in den Waggon

„Hüttenwirt das ist eine Passion, oder?“ frage ich, als Toni seinen letzten Vortrag gerade beendet hat. „Kann man so sagen, aber noch nicht immer,“ erklärt er. „Ursprünglich war ich Lokführer – ein toller Beruf. Du stehst vorn, lenkst die Bahn, hast die Verantwortung für so viele Passagiere. Aber eigentlich siehst du von den Menschen, die du tagtäglich transportierst, nichts,“ fährt er fort. „Am Karl-Lechner-Haus, da hab ich ausgeholfen. Und weißt, was ich da gemerkt hab? Menschen sind so verschieden. Spannend. Da wusste ich: Das will ich machen.“ Vom Führerstand in den Waggon der Berghütte.

Während er so erzählt, teilt Toni beherzt ein Stück Rindfleisch auf einem hölzernen Brettchen in mehrere Teile, pikst eines an und reicht mir die Gabel herüber. Sie wirkt wie ein Spielzeug in seinen Händen. Das Fleisch duftet herrlich. Eigentlich hat es Toni für einen Eintopf gekocht. Er isst es jedoch, wie andere eine Tüte Chips snacken würden. Ich probiere. Das Fleisch schmilzt förmlich auf der Zunge – so saftig, so zart. Ich bin schwer beeindruckt von Tonis Kochkünsten. Noch eine Weile sitzen wir so zusammen und lauschen seinen Rezitationen bis sich nacheinander alle ins Bett verabschieden. Das Matratzenlager habe ich ganz für mich allein an diesem Abend – mal wieder.

Hinterlasse einen Kommentar